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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Tagesmärsche. Wenn wir Kranke mitnehmen, halten wir die ganze Kompanie auf. Wir könnten unser eigenes Leben verlieren.«
    »Dann lassen Sie mich zurück, Herr Major.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Bitte!«
    »Nein«, sagte Bálint, jetzt wütend. »Notfalls werde ich Sie mit meiner Waffe zum Marschieren zwingen.«
    Doch am Ende war keine Machtdemonstration vonnöten. Zoltán Novak, ehemaliger Ehemann und Vater, ehemaliger Intendant des Théâtre Sarah-Bernhardt und des Budapester Operaház, der Mann, den Klara Morgenstern elf Jahre lang geliebt hatte und in gewissem Maße wohl noch immer liebte, schlief in jener Nacht ein und wachte nicht mehr auf.

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    37.
Eine Flucht
    ALS DER ZUG BUDAPEST ERREICHTE, standen die Forsythien in Blüte. Alles andere war grau oder blass gelbgrün; an einigen wenigen Bäumen entlang der äußeren Umgehungsstraße sprossen die ersten Knospen, auch wenn sich in der Stadt selbst noch die feuchte Wundheit der jüngsten Schneeschmelze hielt. Das Jahr 1943 kam Andras unwirklich vor. In der letzten Phase der Rückreise hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Jetzt kannte er wieder das Datum: Es war der 25. März, sieben Monate und drei Wochen nach seiner Verlegung nach Ostgalizien. Klara war zum Bahnhof Keleti gekommen, um ihn vom Zug abzuholen. Er war fast ohnmächtig geworden, als er sie auf dem Bahnsteig erblickte, wo ein Kind neben ihr stand – stand! Sein Sohn Tamás in einem knielangen Mantel und festen kleinen Jungenschuhen. Tamás, inzwischen fast anderthalb Jahre alt; Tamás, der ein kleines Kind in Klaras Armen gewesen war, als Andras ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Über Klaras Stirn zog sich eine schmale Sorgenfalte, doch ansonsten war sie unverändert: Ihr dunkles Haar war im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengefasst, der Ausschnitt ihres grauen Kleides entblößte ihre geliebten flachen Schlüsselbeine. Sie machte nicht einmal den Versuch, ihr Entsetzen über Andras’ körperlichen Zustand zu verbergen. Sie legte die Hand auf den Mund, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er wusste, wie er aussah, wusste, dass er wie ein Mann aussah, dem man den Körper fast fortgedroschen hatte. Sein Kopf war zum Entlausen rasiert worden; seine Kleider, oder was noch davon übrig war, hing locker an ihm herab. Seine Finger waren zu krummen Klauen verformt, seine Wangen trugen drei weiße Narben, wo ihn die Splitter eines zerschossenen Scheunenfensters getroffen hatten. Als Klara ihn in die Arme nahm, spürte er, wie vorsichtig sie mit ihm umging, so als befürchte sie, ihm mit ihrer Umarmung wehzutun. József war bei ihrem Wiedersehen nicht dabei; er war noch in Debrecen, erholte sich im Militärkrankenhaus. Sein Knie war bei der Grenzüberquerung verwundet worden, er wurde wegen einer Bindegewebsentzündung behandelt. In ein oder zwei Wochen würde auch er zurückkehren. Von einem Postamt in der Nähe des Krankenhauses hatte Andras Klara ein Telegramm mit der Nachricht von seiner baldigen Rückkehr schicken können.
    Mein Liebling. Mein Schatz. Sie wären dort stehen geblieben und hätten es die ganze Nacht gesagt, hätten sich angeschaut, sich die Hände geküsst, einander übers Gesicht gestreichelt, wenn Tamás sich nicht gemeldet und auf den Arm hätte genommen werden wollen. Andras hob ihn hoch und schaute in das runde Gesicht mit den fragenden Brauen und den großen, ausdrucksstarken Augen.
    »Apa«, sprach Klara dem Jungen vor und tippte auf Andras’ Brust. Doch Tamás wandte sich ab und streckte die Arme nach Klara aus, hatte Angst vor dem fremden Mann.
    Andras bückte sich zu seinem Ranzen und schlug die Lasche zurück. Er holte den roten Gummiball heraus, den er für drei Fillér bei einem Straßenverkäufer in Debrecen erstanden hatte. Der Ball hatte einen weißen Stern an beiden Polen und wurde durch ein grünes Band zweigeteilt. Tamás streckte die Hände danach aus. Doch Andras warf den Ball in die Luft und fing ihn auf dem Rücken, zwischen den Schulterblättern. Diesen Trick hatte er vor langer Zeit von seinen Schulkameraden in Konyár gelernt. Dann nahm er den Ball vom Rücken und verbeugte sich vor Tamás, der den Mund aufriss und vor Lachen krähte.
    »Mehr«, verlangte Tamás.
    Das war das erste Wort, das Andras von ihm hörte. Der Trick erwies sich beim zweiten und dritten Mal als genauso lustig. Schließlich reichte Andras Tamás den Ball, und der Kleine hielt ihn verzückt fest, während Klara ihn durch das Erzsébetváros nach Hause trug.

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