Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
des Intendanten der Oper übernommen hatte. Dort in Budapest sei seine Frau krank geworden und gestorben. Kurz darauf sei der Mann, der bereits an Tuberkulose litt – sicherlich um ein Exempel zu statuieren –, zum Arbeitsdienst eingezogen und der Kompanie zugewiesen worden, zu der etwas später auch der Chefredakteur stieß. Im vergangenen Herbst seien sie vorübergehend zur königlich-ungarischen Feldgendarmerie bei Staryy Oskol geschickt worden, wo man sie verhört, geschlagen und aller Dinge beraubt hatte, die sie bei sich trugen. Die ungarische Feldgendarmerie wusste, wer dieser große Mann war, diese ehemalige Lichtgestalt des Theaters; er wurde vor die anderen gestellt und mit Gewehrkolben geschlagen, und dann holte jemand ein Telegramm hervor, in dem mitgeteilt wurde, dass der Sohn des Mannes an Masern gestorben sei. Das Telegramm hatte die Tante des Jungen an einen Verwandten in Szeged geschickt; es war in Budapest abgefangen und offenbar zur ausdrücklichen Folter jenes Herrn nach Staryy Oskol weitergeleitet worden. Der Mann flehte darum, ebenfalls getötet zu werden, doch man ließ ihn mit dem Rest des Bataillons allein, und am nächsten Tag wurden sie nach Osten geschickt.
»Und wie ging es mit ihm weiter?«, fragte Andras, die Hände auf den Knien, und schaute in die ausgehöhlten Augen des früheren Chefredakteurs. »Ist er in Woronesch gestorben?«
»Das ist es ja gerade«, sagte der andere. »Er starb nicht, was auch immer er versuchte. Er meldete sich freiwillig zum Räumen von Landminen. Er lief in die Schusslinie, wann immer er konnte. Er überlebte alles. Selbst die Schwindsucht konnte ihn nicht umbringen.«
»Wie habt ihr ihn zurückgelassen? Wo habt ihr ihn zuletzt gesehen?«
»Er liegt da drüben in der Ecke, wo dein Freund sitzt.«
Andras sah sich über die Schulter um. József hatte sich hingekniet und reichte einem Mann Wasser, der auf einem Stapel gefalteter Getreidesäcke lag; der Mann drehte den Kopf zur Seite, und hinter dem Schleier von Krankheit und Abmagerung erkannte Andras Zoltán Novak.
»Ich kenne ihn«, sagte Andras.
»Natürlich. Wer kennt ihn nicht? Er war bekannt.«
»Nein, ich kenne ihn persönlich.«
»Dann geh hin und begrüße ihn.« Er legte die Hand auf Andras’ Brust und drückte ihn in Richtung des Kranken, eine Geste, die ein schwaches Gespenst seiner alten Energie, seiner alten Leidenschaft war.
Andras näherte sich József und dem Mann auf den Mehlsäcken. Er fing Józsefs Blick ab und winkte ihn in eine Ecke.
»Das ist Zoltán Novak«, flüsterte Andras.
József runzelte die Stirn und schaute sich zu dem Kranken um. »Novak?«, fragte er. »Bist du sicher?«
Andras nickte.
»Gott helfe uns«, sagte József. »Er ist so gut wie tot.«
Doch der Mann hob den Kopf von den Mehlsäcken und schaute Andras und József an.
»Ich komme sofort wieder«, sagte József zu ihm.
»Wasser«, stöhnte Novak, seine Stimme ein raues Wispern in seiner Kehle.
»Ich gehe zu ihm«, sagte Andras.
»Warum?«
»Weil er mich kennt.«
»Irgendwie glaube ich nicht, dass das ein Trost für ihn ist«, bemerkte József.
Doch Andras kniete sich neben Novak, der sich mit geschlossenen Augen zwei, drei Zentimeter auf den gefalteten Säcken hochhievte. Sein Atem rasselte, als streiche man über die Zinken eines Kamms.
»Gib mir Wasser«, wiederholte er.
Andras hielt ihm seine Feldflasche an die Lippen, und Novak trank. Anschließend räusperte er sich und sah Andras an. Langsam stieg Hitze in sein Gesicht, die Haut um seine Augenlider errötete schwach. Er stützte sich auf die Ellenbogen.
»Lévi«, sagte er kopfschüttelnd. Er gab drei schnarrende Geräusche von sich, es mochte Bestürzung oder Lachen sein. Die Anstrengung kostete ihn Kraft. Er legte sich wieder hin und schloss die Augen. Es dauerte lange, ehe er wieder sprechen konnte, und dann kamen die Worte nur langsam und mit Mühe. »Lévi«, sagte er wieder. »Ich muss tot sein, Gott sei Dank. Ich bin tot und in der Gehenna. Und du bist hier bei mir, auch tot, hoffe ich.«
»Nein«, sagte Andras. »Immer noch lebendig in Ostgalizien, wir beide.«
Novak schlug die Augen wieder auf. Sein Blick hatte eine gewisse Weichheit, ein unfassbares Mitleid, das ihn selbst nicht ausschloss, aber sich auch nicht auf ihn allein richtete; es schien sie alle einzuschließen, Andras, József und den Chefredakteur, die anderen kranken und sterbenden Männer und die Arbeitsdienstler, die ihnen Wasser gaben und ihre Wunden
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