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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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versorgten.
    »Du siehst, wie es um mich steht«, sagte Novak. »Vielleicht befriedigt es dich ein wenig, mich so zu sehen.«
    »Natürlich nicht, Novak-úr. Sag mir, was ich für dich tun kann.«
    »Es gibt nur eins, was ich will«, sagte Novak. »Aber darum kann ich dich nicht bitten, ohne einen Mörder aus dir zu machen.« Er lächelte schwach und hielt wieder inne, um Atem zu schöpfen. Dann hustete er unter Schmerzen und drehte sich auf die Seite. »Seit Monaten wünsche ich mir zu sterben. Aber wie sich herausstellt, bin ich ziemlich zäh. Ist das nicht wunderbar? Und ich bin zu feige, mir selbst das Leben zu nehmen.«
    »Hast du Hunger?«, fragte Andras. »Ich habe Brot in meinem Ranzen.«
    »Glaubst du, ich will Brot?«
    Andras wandte den Blick ab.
    »Der andere Mann ist ihr Neffe, nicht wahr?«, sagte Novak. »Er hat Ähnlichkeit mit ihr.«
    »Ich bilde mir gerne ein, dass sie ein ganzes Stück besser aussieht«, gab Andras zurück.
    Novak hustete ein Lachen heraus. »Da hast du recht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Andras Lévi. Ich hoffte, ich würde dich nach dem Tag in der Oper nicht mehr wiedersehen.«
    »Wenn du willst, lasse ich dich allein.«
    Wieder schüttelte Novak den Kopf, und Andras wartete, dass er noch etwas sagte. Doch das Sprechen hatte ihn erschöpft. Mit offenem Mund fiel er in einen leichten Schlaf. Andras saß bei ihm, während Novak nach Luft schnappte. Draußen kreischte der Wind mit der Kraft eines Schneesturms. Andras legte den Kopf auf die Arme und schlief ebenfalls ein, und als er aufwachte, war es dunkel geworden im Kornspeicher. Niemand hatte eine Kerze; wer noch eine Taschenlampe besaß, hatte seit Monaten keine Batterien mehr. Die Geräusche und Gerüche kranker Männer schlossen sich um ihn wie ein eng gewobener Schleier. Novak war jetzt hellwach und betrachtete Andras aufmerksam, sein Atem ging schwerer als zuvor. Jedes Luftholen klang, als baute er aus ungeeigneten Materialien und mit kaputtem Werkzeug ein kompliziertes Gebäude; jedes Ausatmen war der Einsturz jenes hässlichen schiefen Bauwerks. Dann sprach Novak wieder, jedoch so leise, dass Andras sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen.
    »Jetzt ist es gut«, sagte er. »Alles ist gut.«
    Es war unklar, ob er Andras oder sich oder beide gleichzeitig beruhigen wollte; ein wenig schien er sich an jemanden zu wenden, der nicht da war, obwohl sein Blick in der Dunkelheit auf Andras gerichtet war. Bald wurde er still und schlief wieder ein. Andras blieb die ganze Nacht bei ihm, während Novak abwechselnd einschlief und aufschreckte, und am nächsten Morgen gab er Novak seine Ration Brot. Trocken bekam Novak es nicht herunter, deshalb zerbröselte Andras es zu Krumen und vermischte es mit geschmolzenem Schnee. Drei Tage verbrachten sie so: Novak erwachte und schlief ein, Andras gab ihm Nahrung und Wasser in kleinen Portionen, bis sich das Wetter aufklärte und der Schnee so weit geschmolzen war, dass die 79/6 in Richtung Grenze weitermarschieren konnte. Als Bálint verkündete, dass die Männer am nächsten Morgen aufbrechen würden, war Andras’ Erleichterung mit Schrecken gemischt. Er bat um eine kurze Unterredung mit dem Major; sie könnten die anderen Männer nicht zum Sterben zurücklassen.
    »Wie sollen sie Ihrer Meinung nach denn transportiert werden, Lévi?«, fragte Bálint in strengem Tonfall, aber nicht unfreundlich. »Wir haben keine Sanitätswagen. Wir haben kein Material für Tragen. Und wir können auf keinen Fall hierbleiben.«
    »Wir könnten uns etwas einfallen lassen, Herr Major.«
    Bálint schüttelte seinen struppigen Kopf. »Diese Männer sind drinnen besser aufgehoben. Der Sanitätstrupp wird in wenigen Tagen hier sein. Wer transportiert werden kann, wird dann mitgenommen.«
    »Bis dahin werden viele von ihnen tot sein«, bemerkte Andras.
    »In dem Fall, Lévi, würden wir sie nicht dadurch retten, dass wir sie durch Eis und Schnee ziehen.«
    »Einer dieser Männer hat mir das Leben gerettet, als ich in Paris studierte. Ich kann ihn nicht im Stich lassen.«
    »Hören Sie mir zu«, sagte Bálint und sah Andras mit seinen großen erdfarbenen Augen fest an. »Ich habe einen Sohn und eine Tochter zu Hause. Die anderen sind ebenfalls Ehemänner und Väter, viele jedenfalls. Wir sind jung. Wir müssen lebendig zu Hause ankommen. Das ist der Grundsatz, nach dem ich diese Kompanie seit dem Rückzug geführt habe. Wir sind noch immer hundert Kilometer von der Grenze entfernt, mindestens fünf

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