Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
gesetzt worden und konnte nicht von ihr entfernt werden. Sie war wie die Liebe, dachte er, diese zerfallende Kapelle: Durch das, was die Zeit ihr angetan hatte, war sie komplizierter geworden – und perfekter.
Am melancholischsten war Andras in jenem Jahr, wenn er mit Tibor allein war. Wo auch immer sie hingingen, was auch immer sie taten – egal ob sie an ihrem angestammten Tisch im Künstlercafé saßen, über die Wege des Városliget bummelten oder an der Brüstung der Kettenbrücke standen und ins strudelnde Wasser hinunterschauten –, wenn Andras mit Tibor zusammen war, spürte er am ganzen Leibe, dass sie den Ereignissen preisgegeben waren, ohne sie kontrollieren zu können. Die Donau, einst ein magischer Kanal, über den sie sich aus Ungarn hätten hinausstehlen können, war wieder zu einem ganz normalen Fluss geworden; Klein war im Gefängnis, ihre Visa waren abgelaufen, die Trasnet war nicht mehr als die Erinnerung an einen Namen. Vorher war Tibors Willenskraft für Andras immer eine unerbittliche Macht gewesen. Tibor hatte eine übernatürliche Begabung besessen, das Unmögliche Wirklichkeit werden zu lassen. Doch ihre Flucht war nicht Wirklichkeit geworden, und nun hatten sie keinen geheimen Plan, den sie gegen ihre Ängste aufwiegen konnten. Tibor selbst hatte sich verändert; er war jetzt seit drei Jahren beim Munkaszolgálat, und wie Andras auch war er gezwungen gewesen, dessen schwierige Lektionen zu lernen. Seit seiner Rückkehr von der Ostfront trug Tibor eine schwere Last mit sich herum, schien es Andras – die Last von Dutzenden Körpern, lebenden und toten, von kranken oder verwundeten Männern, die er im Arbeitsdienst und im Budapester Krankenhaus gepflegt hatte. Seine Geschichten endeten oft mit »Wir konnten ihn nicht retten«. Er erzählte Andras jedes Detail über Blutungen, die nicht gestillt werden konnten, über die Ruhr, die Männer von innen nach außen kehrte, über Lungenentzündungen, die die Opfer erstickten.
Und die Leichen sammelten sich weiterhin an, auch in Budapest, fern dem Frontverlauf. Eines Abends tauchte Tibor im Büro des Kurier auf und fragte, ob Andras ein bisschen früher Schluss machen könne; ein junger Mann, um den sich Tibor gekümmert hatte, sei wenige Stunden zuvor auf dem Operationstisch gestorben, Tibor bräuchte etwas zu trinken. Andras ging mit seinem Bruder in eine Kneipe, die sie immer schon gemocht hatten, ein schmales, bernsteingelb beleuchtetes Lokal namens »Straßenbahnglocke«. Dort erzählte Tibor bei bitterem Bier Andras die Geschichte: Der junge Mann war Monate zuvor in der Schlacht von Woronesch verwundet worden, hatte Granatsplitter in beiden Lungenflügeln und seitdem nicht mehr richtig atmen können. Bei einer riskanten Operation zur Entfernung der Fragmente war die Lungenarterie durchtrennt worden, und der Junge war auf dem OP -Tisch verblutet. Tibor hatte den Arzt, einen begabten und angesehenen Chirurgen namens Keresztes, ins Wartezimmer begleitet, wo er den Eltern des Jungen die Nachricht überbrachte. Tibor hatte mit Weinen, Protest oder einem Zusammenbruch gerechnet, doch die Mutter des Jungen hatte sich von ihrem Stuhl erhoben und ruhig erklärt, ihr Sohn könne nicht tot sein. Sie zeigte Keresztes einen Pullover, den sie gerade für ihren Jungen gestrickt hatte; er war aus einer Wolle, die in eine Quelle in Szentgotthárd getaucht worden war, wo dreimal das Gesicht der Heiligen Jungfrau erschienen sei. Sie hätte gerade den letzten Faden vernäht, als der Chirurg hereinkam. Man müsse ihr erlauben, den Pullover auf ihren Sohn zu legen; er sei nicht tot, sondern schlafe nur tief, und die Heilige Jungfrau halte Wache. Als Keresztes die näheren Todesumstände erklärte und auf die Unmöglichkeit einer Genesung hinwies, hatte der Vater des Jungen dem Chirurgen gedroht, ihm mit seinem eigenen Skalpell die Kehle aufzuschlitzen, wenn die Mutter nicht tun dürfe, was sie wolle. Der Chirurg, ermüdet von der langen Arbeit, hatte die Eltern an das Bett ihres Sohnes in einem Raum unweit des Operationssaals geführt und Tibor bei ihnen zurückgelassen, um ihren Besuch des toten Sohnes zu beaufsichtigen. Die Mutter hatte den Pullover auf den Verbandwickel um die Brust des Toten gelegt und den Rosenkranz gebetet. Doch der Segen der Jungfrau holte ihren Sohn nicht ins Leben zurück. Reglos lag er da, und als die Mutter das Ende der Perlenkette erreicht hatte, schien sie die Situation zu begreifen. Ihr Sohn war fort, war in Budapest gestorben,
Weitere Kostenlose Bücher