Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
ausgegeben hatte, war József einverstanden, sich zur Straßenbahnhaltestelle auf der Vámház körut führen zu lassen, wo eine lärmende Menge bereits auf die Bahn wartete.
Mittlerweile schien jeder dieselben Gerüchte gehört zu haben: Ein Transport SS -Truppen, zwischen fünfhundert und tausend Mann, sei an einem Bahnhof in der Nähe der Hauptstadt eingetroffen, marschiere nun nach Osten und würde bald die Stadtgrenze überschreiten. Bewaffnete und motorisierte deutsche Divisionen sollten von allen Richtungen in Ungarn einmarschiert sein; die Flughäfen in Ferihegy und Debrecen wären besetzt. Als die Straßenbahn kam, verkündete das Fahrkartenmädchen lauthals, wenn ein deutscher Soldat in ihre Bahn steigen wollte, würde sie ihm ins Gesicht spucken und sagen, er solle sich verziehen. Unter den Fahrgästen brach trotziger Jubel aus. Jemand begann zu singen: »Isten, áld meg a Magyart«, und dann grölten alle die Nationalhymne, während die Straßenbahn die Vámház körut hinunterrollte.
Schweigend hörten Andras und József zu. Wenn die Gerüchte stimmten und wirklich eine deutsche Besatzung bevorstand, würde Kállays Regierung die Nacht nicht überleben; Andras konnte sich das Regime gut vorstellen, von dem sie ersetzt würde. Seit sechs Jahren erhielten er und der Rest der Welt nun eine Lektion in deutscher Besatzung und ihren Folgen. Doch was konnte jetzt der Zweck einer Okkupation sein? Der Krieg war für Deutschland so gut wie verloren. Das wusste jeder. An allen Fronten waren Hitlers Armeen dem Zusammenbruch nahe. Wo wollte er überhaupt die Soldaten auftreiben, die man für eine Besatzung brauchte? Das ungarische Militär wäre sicherlich kaum bereit, ein deutsches Oberkommando zu akzeptieren. Es mochte bewaffneten Widerstand geben, einen patriotischen Ruck in der Bevölkerung. Die Generäle des Honvédség würden sich niemals kampflos ergeben, nicht nachdem Hitler so viele Ungarn an der Ostfront geopfert hatte.
An ihrer Haltestelle stiegen Andras und József aus, blieben auf dem Bürgersteig stehen und sahen die Straße hoch und runter, als hielten sie Ausschau nach den Truppen. Der Samstagabend schien sich nicht von anderen zu unterscheiden. Taxis jagten mit ihrer Fracht aus Nachtschwärmern über den Boulevard, die Bürgersteige waren voller Männer und Frauen in Abendgarderobe.
»Sollen wir das glauben?«, sagte Andras. »Soll ich mit dieser Nachricht zu Klara nach Hause kommen?«
»Wenn es stimmt, wird sich die Armee mit Sicherheit nicht kampflos ergeben.«
»Das habe ich auch schon gedacht. Aber selbst wenn, wie lange soll das schon dauern?«
József holte sein Zigarettenetui hervor, sah, dass es leer war, und zog eine schmale Silberflasche aus der Brusttasche. Er nahm einen langen Schluck und bot sie dann Andras an.
Der schüttelte den Kopf. »Ich hab genug getrunken«, sagte er und wandte sich zum Gehen. Sie liefen die Wesselényi hinauf zur Nefelejcs utca, schauten sich an, wünschten sich auf der Türschwelle eine gute Nacht und versprachen einander, sich am nächsten Morgen wiederzusehen.
Oben in der dunklen Wohnung lag Tamás bei Klara, den Rücken an ihren Bauch gekuschelt. Als Andras zu ihnen ins Bett stieg, drehte der Kleine sich um und drückte den Rücken an den Vater, schob den Po gegen Andras’ Unterbauch, presste die Füße heiß an Andras’ Oberschenkel. Klara seufzte im Schlaf. Andras legte einen Arm um die beiden, hellwach, und lauschte stundenlang ihrem Atem.
Um sieben Uhr am nächsten Morgen erwachten sie von einem Klopfen an der Tür: Es war József, ohne Hut und ohne Mantel, die Hemdsärmel blutbefleckt. Sein Vater sei gerade von der Gestapo verhaftet worden. Klaras Mutter sei bewusstlos umgekippt, kurz nachdem die Männer György mitgenommen hätten, sie habe sich den Kopf am Kaminvorsprung aufgeschlagen; Elza sei am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Andras müsse auf der Stelle Tibor holen, Klara müsse József begleiten.
In der nun folgenden Verwirrung beharrte Klara darauf, dass es nicht die Gestapo gewesen sein könne, dass József sich geirrt haben müsse. Als Andras seine Stiefel anzog, musste er ihr gestehen, dass es durchaus die Gestapo gewesen sein konnte, dass in der vergangenen Nacht allerlei Gerüchte von einer deutschen Besatzung in der Stadt gebrodelt hatten. Andras lief zu Tibors Wohnung und Klara zu den Hász; eine Viertelstunde später waren sie alle um das Bett der älteren Frau Hász versammelt, die inzwischen wieder bei Bewusstsein war
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