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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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nachdem er die Schlacht bei Woronesch überlebt hatte; nichts würde ihn wieder zurückbringen. Als eine Krankenschwester hereingekommen war, um die Leiche wegzubringen, damit der Raum für den nächsten Patienten genutzt werden konnte, hatte Tibor sie gebeten, die Eltern so lange bei dem Jungen bleiben zu lassen, wie sie wollten. Die Krankenschwester hatte darauf bestanden, dass das Zimmer geräumt würde; der neue Patient käme in einer Viertelstunde aus dem OP . Die Eltern des Toten sahen ein, dass sie keine Wahl hatten, und wandten sich zur Tür. Auf der Schwelle hatte die Mutter Tibor den Strickpullover in die Hände gedrückt. Er solle ihn nehmen, sagte sie, er könne ihrem Sohn nichts mehr nützen.
    Tibor öffnete seinen Lederranzen und holte den Pullover hervor, graues Garn, gleichmäßig und kleinmaschig gestrickt. Er legte ihn auf seine Knie und strich die Wolle glatt. »Weißt du, was das Schlimmste daran war?«, fragte er. »Als Keresztes den Raum verließ, sah er mich an und verdrehte die Augen. Diese Spinner, diese Verrückten . Ich weiß, dass die Mutter es sah.« Tibor legte das Kinn in die Hand und schaute Andras mit einem so schmerzdurchwirkten Ausdruck an, dass sich Andras’ Kehle zusammenzog. »Das Schlimmste daran war, dass ich in dem Moment nur Verständnis für Keresztes hatte. Ich hätte ihn eigentlich zu Brei schlagen sollen, weil er in so einem Moment die Augen verdrehte, stattdessen konnte ich nur denken: Mein Gott, wie lange soll das noch dauern? Wann bekommen wir diese Leute hier endlich raus? «
    Andras konnte nur verständnisvoll nicken. Er wusste, dass Tibor keine Bestätigung wollte, welch guter Mensch er sei, dass er unter anderen Umständen Mitleid mit den Eltern gehabt hätte und nicht mit dem erschöpften Chirurgen; er und sein Bruder kannten die Gedankengänge des anderen in- und auswendig. Die Geschichte allein gehört zu haben, reichte Andras schon. Ein langes Schweigen machte sich breit, während beide ihr Bier tranken. Dann endlich ergriff Tibor wieder das Wort.
    »Als ich das Krankenhaus verließ, habe ich eine gute Nachricht erhalten«, erklärte er. »Eine Krankenschwester hatte es im Rundfunk gehört. Die Verantwortlichen der Massaker im Délvidék, Generaloberst Feketehalmy-Czeydner und die anderen, wandern am Montag in den Knast. Feketehalmy-Czeydner muss fünfzehn Jahre sitzen, die anderen fast genauso lange. Hoffen wir, dass sie darin verrotten.«
    Andras hatte nicht den Mut, seinem Bruder den Rest der Geschichte zu erzählen, die er, kurz bevor Tibor in die Nachrichtenredaktion kam, erfahren hatte: Feketehalmy-Czeydner und drei andere im Délvidék-Verfahren verurteilte Offiziere waren angesichts ihrer langen Haftstrafen noch am selben Tag nach Wien geflohen, wo sie in einem berühmten Brauhaus mit sechs Gestapo-Offizieren beim Essen gesehen worden waren. Der Wiener Korrespondent des Abendkurier war nah genug dran gewesen, um festzustellen, dass die Männer Kalbswürstchen mit Paprika gegessen hatten und auf die Gesundheit des Oberbefehlshabers des Dritten Reichs getrunken hatten. Der Führer selbst, ging das Gerücht, hätte den Offizieren politisches Asyl garantiert. Doch das würde Tibor noch früh genug in der Zeitung lesen. Fürs Erste, dachte Andras, sollte er einen Moment Frieden haben, wenn das das richtige Wort dafür war.
    »Auf dass sie im Gefängnis verrotten!«, sagte er und hob sein Glas.

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    38.
Besatzung
    IM MÄRZ 1944, NICHT LANGE nachdem Klara gemerkt hatte, dass sie wieder schwanger war, berichteten die Zeitungen, dass Horthy zu einer Konferenz mit Hitler nach Schloss Klessheim bestellt worden sei. Begleitet wurde er von dem neuen Verteidigungsminister, Lajos Csatay, der Vilmos Nagy abgelöst hatte, und von Ferenc Szombathelyi, dem Leiter des Generalstabs. Premierminister Kállay verkündete den Zeitungen, die Magyaren-Nation habe nun Grund zur Hoffnung: Hitler wolle über den Rückzug der ungarischen Truppen von der Ostfront sprechen. Tibor spekulierte, diese Wendung könnte Mátyás endlich nach Hause bringen, wenn ihn sonst nichts heimgeführt habe.
    Am Abend der Klessheim-Konferenz befanden sich Andras und József im Ananas-Club, dem unterirdischen Kabarett in der Nähe des Vörösmarty tér, wo Mátyás einst auf einem weißen Flügel getanzt hatte. Der Flügel war immer noch da; an den Tasten saß Berta Türk, eine Vaudevillekünstlerin der alten Schule, deren schlangenartige Frisur an eine Medusa von Beardsley erinnerte.

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