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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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József hatte als Bezahlung für das Streichen eines Hauses Eintrittskarten für die Vorstellung bekommen. Berta Türk war ein Jugendschwarm von ihm gewesen; er konnte der Gelegenheit nicht widerstehen, sie zu sehen, und bestand darauf, dass Andras ihn begleitete. Er lieh Andras ein seidenes Jackett und stattete sich selbst mit einem Smoking aus, den er fünf Jahre zuvor aus Paris mitgenommen hatte. Für Madame Türk hatte er einen Strauß roter Treibhausrosen gekauft, die die Hälfte seines Wochenlohns gekostet haben mussten. Zusammen mit Andras saß er unweit der Bühne; sie tranken hohe schmale Gläser mit der Spezialität des Clubs, einem kräftig-süßen Rumcocktail. Berta brachte ihre Wortspiele und Anzüglichkeiten mit tiefer, honigsüßer Stimme, und ihre Augenbrauen hoben und senkten sich wie die einer Gangsterbraut aus einem Comicstrip. Es gefiel Andras, dass der erwachsene József sich dieses seltsame Objekt der Begierde ausgesucht hatte, statt einer kalten, stummen Leinwandschönheit. Doch er merkte, dass er nicht viel Spaß an Bertas Scherzen hatte; er dachte an Mátyás, spürte ihn überall in dem Raum – wie er einen Jazzrhythmus an der Theke steppte, sich auf dem Flügel räkelte oder eine flotte Sohle aufs Parkett legte wie Fred Astaire. In der Pause ging Andras nach draußen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Die Nacht war feucht und kühl und die Straßen voller Menschen, die Zerstreuung suchten. Ein Trio parfümierter junger Frauen streifte ihn, klappernde Absätze, wehende Mäntel; aus einem Jazzclub auf der anderen Seite schwebte »Bei mir bist du schön« durch den samtverhängten Eingang. Andras schaute am verschnörkelten Gesims des Gebäudes vorbei hoch in den Himmel, der von einem eierförmigen Mond beleuchtet wurde. Wolkenfäden zogen unleserliche Textzeilen über sein Gesicht. Er schien so nahe, als müsse Andras nur die Hand ausstrecken, um ihn zu greifen.
    »Feuer?«, fragte ihn ein Mann.
    Andras blinzelte den Mond fort und schüttelte den Kopf. Der Mann, ein dunkelhaariger junger Soldat in einer Uniform der ungarischen Armee, bekam ein Streichholz von einem Passanten und entzündete erst die Zigarette seiner Freundin, dann seine eigene.
    »Es stimmt, wenn ich’s doch sage«, hörte Andras die Freundin sagen. »Wenn Markus sagt, es gibt eine Besatzung, dann gibt es auch eine.«
    »Dein Cousin ist ein Faschist. Ihm wäre nichts lieber als eine deutsche Besatzung. Aber er weiß ja nicht, wovon er redet. Horthy und Hitler verhandeln gerade in diesem Moment.«
    »Schon. Aber das ist ein Ablenkungsmanöver.«
    Jeder hatte eine Theorie; jeder Mann, der lebendig von der Ostfront zurückgekehrt war, meinte genau zu wissen, wie der Krieg sich entwickeln würde, sowohl im Großen wie im Kleinen. Jede These klang genauso einleuchtend oder abstrus wie die nächste; jeder militärische Amateurtheoretiker war felsenfest überzeugt, dass nur er allein Ordnung in das Chaos des Kriegs bringen könne. Andras und Tibor, József und Polaner, sie alle waren schuldig, diese Illusion zu hegen. Jeder hatte sein eigenes Strategiegerüst, und jeder war der Meinung, die anderen lägen hoffnungslos daneben. Wie lange, fragte sich Andras, könnten sie noch Beweise führen, die auf Vernunft basierten, wenn der Krieg doch bei jeder neuen Wendung der Vernunft trotzte? Wie lange dauerte es noch, bis sie alle verstummten? Es mochte sogar zutreffen, dass die Deutschen gerade in diesem Moment eine Besetzung Ungarns in die Wege leiteten; alles war möglich, alles Erdenkliche. Mátyás mochte gerade am Keleti-Bahnhof aus dem Schlund eines Güterwaggons springen, sich den Ranzen über die Schulter werfen und nach Hause in die Nefelejcs utca gehen.
    Durch einen Nebel von Rum ließ Andras sich wieder hineintreiben und wanderte zum Tisch neben der Bühne, wo József Madame Türks Aufmerksamkeit in Anspruch nahm und ihr Komplimente machte. Madame Türk, so schien es, wollte sich gerade verabschieden; eine dringende Nachricht mache es notwendig, dass sie auf der Stelle aufbreche. Sie gestattete József, ihr die Hand zu küssen, schob sich eine seiner Rosen hinters Ohr und huschte über die Bühne davon.
    »Was denn für eine Nachricht?«, fragte Andras, als sie fort war.
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte József in seiner Seligkeit. Er bestand darauf, dass sie noch etwas tranken, bevor sie gingen, und schlug vor, ein Taxi nach Hause zu nehmen. Doch als Andras ihn erinnerte, was er an diesem Abend bereits

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