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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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vorbei«, sagte er. »Gott sei Dank haben sie dich nicht umgebracht.«
    Nachts im Schlafzimmer lagen Andras und Klara im Dunkeln wach, sie in seinen Armen. Wie oft hatte er sich in den vergangenen vier Jahren ausgemalt, dass sie verhaftet, geschlagen und ins Gefängnis gesteckt würde, ohne dass er etwas daran ändern könnte? Er konnte kaum fassen, dass diese immerwährende Bedrohung fort war. Klara neben ihm war ruhig und gefasst; er wusste, wie sehr sie unter dem Preis ihrer Befreiung litt. Durch ihre Rückkehr nach Ungarn, ein Risiko, das sie seinetwegen auf sich genommen hatte, hatte sie ihre Familie ruiniert. Jetzt war sie frei, doch ihre Freiheit würde nie so weit reichen, dass sie Gerechtigkeit oder die Rückzahlung der von der Familie erlittenen Verluste einfordern könnte. Ihr Schweigen war nicht gegen ihn gerichtet, das wusste er, aber es stand dennoch zwischen ihnen. Er fragte sich, ob er ihr jemals auf die Art nahe gewesen war, wie Eheleute sich nah sein sollten. Von ihren achtundvierzig Ehemonaten hatte er nur zwölf zu Hause verbracht. Um die Trennung zu ertragen, hatten sie einen gewissen Abstand zueinander halten müssen. Jedes Mal, wenn Andras daheim gewesen war, wie auch jetzt, hatten sie Angst gehabt, dass er wieder eingezogen würde; sosehr sie das auch ignorieren wollten – diese Möglichkeit stand stets im Raum. Und das, was in Europa vorging, was auch sie treffen konnte, lag wie ein Schleier über jeder Intimität, überschattete sie mit ihren dunklen Schwingen.
    Doch hier lagen sie nun zusammen, in ihrem gemeinsamen Bett, fürs Erste außer Reichweite der Gefahr. Sie lebten, und er liebte sie. Es war Narrheit, nein Wahnsinn, einen Abstand zu ihr zu halten. Es war das Letzte, was er wollte. Andras berührte Klaras nackte Schulter, ihr Gesicht, schob ihr eine Locke aus der Stirn, und sie rückte näher an ihn heran. Mit Rücksicht auf den hinter der Wand schlafenden Polaner – seine Verluste, seine Einsamkeit – liebten sie sich in angespanntem, anstrengendem Schweigen. Anschließend lagen sie da, Andras’ Hand auf Klaras Bauch, und seine Finger fuhren über die vertrauten Narben ihrer Schwangerschaften. Sie hatten keine Maßnahmen gegen eine erneute Schwangerschaft ergriffen, obgleich sich keiner vorzustellen wagte, was es bedeuten mochte, wenn Klara ein Kind trug, während die Sowjets die ungarische Grenze überschritten. Als sie auf den Schlaf zutrieben, beschrieb Andras ihr flüsternd das kleine Haus an der Donau, das er nach dem Krieg bauen würde; es war das Häuschen, das er sich ausgedacht hatte, als er zum ersten Mal in Angyalföld gewesen war, ein weiß getünchtes Backsteinhaus mit einem Ziegeldach und einem Garten, der groß genug für zwei Milchziegen war, dazu ein Außenofen zum Brotbacken, eine schattige Terrasse und eine mit Wein umrankte Laube. Schließlich schlief Klara ein, aber Andras lag wach neben ihr, alles andere als entspannt. Wieder einmal, dachte er, hatte er ein imaginäres Haus entworfen, eines in einer langen Reihe imaginärer Häuser, die er geplant hatte, seit sie zusammen waren; in seinem Kopf konnte er einen dicken Stapel von Entwürfen durchblättern, geisterhafte Blaupausen eines Lebens, das sie noch nie gelebt hatten und vielleicht nie leben würden.
    Wenn das Wetter samstagnachmittags schön war, legten Andras und Klara Wert darauf, ein oder zwei Stunden allein auf der Margareteninsel spazieren zu gehen, während Polaner mit Tamás im Park spielte. Bei diesen Spaziergängen unterhielten sie sich über die Dinge, die Andras in seinen kurzen, zensierten Briefen aus Galizien nicht hatte schreiben können: die Gründe für ihre Deportation und die Rolle, die Die Schiefe Bahn dabei gespielt haben mochte, die Umstände von Mendels Tod, der anschließende lange Kampf mit József und die sonderbaren Geschehnisse auf der Heimreise. Beim ersten Thema war Andras’ größte Angst, dass Klara ihn für das verantwortlich machen würde, was passiert war, dass sie ihn beschuldigte, die Flucht der Familie unmöglich gemacht zu haben. Sie hatte ihn gewarnt; er hatte es nicht eine Sekunde lang vergessen. Doch nun gab Klara sich große Mühe, ihm zu versichern, dass niemand ihn für das Geschehene verantwortlich machte. Diese Einbildung, sagte sie, sei ein Werk des Munkaszolgálat, er solle das ganz schnell vergessen. Die Reise nach Palästina hätte ohne Weiteres in einer Katastrophe enden können. Andras’ Deportation mochte sie womöglich alle gerettet haben. Nun, da

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