Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
und unbedingt berichten wollte, was vor ihrem Sturz passiert war. Zwei Gestapo-Männer seien um halb sieben am Morgen gekommen, hätten György in seinem Nachtzeug aus dem Bett gezerrt, ihn auf Deutsch angeschrien, in einen Wagen gestoßen und wären mit ihm fortgefahren. Da hätte sie das Gleichgewicht verloren und sei gestürzt. Sie betastete ihren Kopf, wo ein Mullrechteck die klaffende Wunde bedeckte.
»Warum György?«, fragte sie. »Warum haben sie ihn mitgenommen? Was hat er getan?«
Niemand konnte ihr das beantworten. Innerhalb weniger Stunden erfuhren sie von anderen Festnahmen: ein ehemaliger Kollege Györgys von der Bank, der jüdische Direktor einer Rentenhandelsgesellschaft, ein bekannter sozialistischer Schriftsteller, ein Nichtjude, der ein unerbittliches Pamphlet gegen die Nazis verfasst hatte, drei von Miklós Kállays’ engsten Beratern und ein liberales Parlamentsmitglied, Endre Bajcsy-Zsilinszky, der die Gestapo mit einer Pistole in der Hand empfangen und sich einen Schusswechsel geliefert hatte, ehe er angeschossen und verschleppt wurde. In jener Nacht nahm József das Risiko auf sich, sich im Gefängnis an der Margit körút zu erkundigen, wo politische Gefangene untergebracht würden, doch ihm wurde nur mitgeteilt, sein Vater sei in deutschem Gewahrsam und würde so lange festgehalten, bis bewiesen werden könne, dass er keine Bedrohung für die Besatzer darstellte.
Das war Sonntag. Am Montag erging der Befehl an alle jüdischen Bürger von Budapest, ihre Rundfunkempfänger und Telefone in einem Büro des Verteidigungsministeriums am Szabadság tér abzugeben. Am Mittwoch wurde verfügt, dass jede Person jüdischen Glaubens, die ein Auto oder Fahrrad besaß, es der Regierung zu Kriegszwecken verkaufen musste – verkaufen war der Ausdruck der Nazis, doch Geld wechselte dabei nicht den Besitzer; die Nazis verteilten Zahlungsgutscheine, die sich bald als wertlos entpuppten. Am Freitag waren in der ganzen Stadt Bekanntmachungen aufgehängt, die den Juden mitteilten, dass sie ab dem fünften April den gelben Stern zu tragen hätten. Kurz darauf machte das Gerücht die Runde, dass die prominenten verhafteten Juden in Arbeitslager nach Deutschland deportiert würden. Klara ging zur Bank, um den Rest ihrer Ersparnisse abzuheben. Sie hofften, jemanden bestechen zu können, damit György entlassen wurde. Doch Klara musste feststellen, dass sie nicht mehr als tausend Pengő holen konnte; alle jüdischen Konten waren eingefroren worden. Am nächsten Tag verlangte die neuste deutsche Anordnung, dass Juden ihren gesamten Schmuck und ihr Gold abzugeben hätten. Klara, ihre Mutter und Elza trennten sich von ein paar wertlosen Schmuckstücken, versteckten ihre Ehe- und Verlobungsringe in einem Kopfkissenbezug auf dem Grund des Mehlkastens und packten den Rest in Samtetuis, die József zum Gefängnis auf der Margit körút brachte, wo er um die Freilassung seines Vaters bat. Die Wachen beschlagnahmten den Schmuck, schlugen József grün und blau und warfen ihn auf die Straße.
Am 20. April verlor Tibor seine Stellung im Krankenhaus. Andras und Polaner wurden beim Abendkurier entlassen und davon in Kenntnis gesetzt, dass sie bei keiner Tageszeitung in der Stadt mehr Arbeit finden würden. József, der nirgends angestellt war und nur unter der Hand bezahlt wurde, machte mit dem Anstreichen weiter, doch sein Kundenstamm begann rasch zu schrumpfen. Ab der ersten Maiwoche tauchten in den Schaufenstern von Geschäften und Restaurants, Cafés, Filmtheatern und Badeanstalten Schilder auf, dass Juden unerwünscht seien. Als Andras eines Nachmittags mit Tamás aus dem Park zurückkehrte, stutzte er auf dem Bürgersteig gegenüber der Bäckerei. Im Fenster hing ein Schild, fast identisch mit jenem, dass er sieben Jahre zuvor in der Bäckerei in Stuttgart gesehen hatte. Doch dieses Schild war in Ungarisch geschrieben, in seiner eigenen Sprache, und dieses war seine eigene Straße, die Straße, wo er mit seiner Frau und seinem Sohn lebte. Kraftlos setzte er sich mit Tamás auf den Bordstein und starrte über die Straße auf das beleuchtete Schaufenster. Dort wirkte alles ganz normal: das Mädchen mit der weißen Haube, die glänzenden Laibe und das Gebäck in der Theke, die goldenen Schnörkel des Bäckereinamens. Tamás zeigte hinüber und nannte sein Lieblingsgebäck, mákos keksz. Andras musste ihm sagen, dass es an diesem Tag keinen mákos keksz geben würde. So viel war jetzt verboten, und wie schnell es gegangen
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