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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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war. Selbst auf der Straße zu sein war gefährlich. Ab fünf Uhr galt eine Ausgangssperre für Juden; wer sich nicht daran hielt, konnte verhaftet oder erschossen werden. Andras zog die Taschenuhr seines Vaters hervor, die sich inzwischen so vertraut anfühlte, als sei sie ein Teil seines Körpers. Zehn Minuten vor fünf. Er stand auf, hob seinen Sohn hoch, und als er zu Hause eintraf, öffnete Klara ihnen die Tür mit seinem Einberufungsbefehl in der Hand.

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    39.
Abschied
    DIESMAL WAREN SIE ALLE ZUSAMMEN: Andras, József und Tibor; Polaner war dank seines falschen Personalausweises und des gefälschten Gesundheitsattests befreit. Die Arbeitsbataillone waren neu zusammengestellt worden. 365 neue Kompanien waren dazugekommen. Da Andras, József und Tibor im selben Bezirk wohnten, wurden sie alle der 55/10 zugeteilt. Ihr Abschied hatte Ähnlichkeit mit einer Beerdigung gehabt, bei der man die Toten, die drei jungen Männer, mit Geschenken für die jenseitige Welt überhäufte. So viele Nahrungsmittel, wie sie tragen konnten. Warme Kleidung. Wolldecken. Vitaminpillen und Verbandsmaterial. Und in Tibors Gepäck Medikamente, die er aus dem Krankenhaus hatte mitgehen lassen. In Erwartung ihrer Einberufung hatte er keine Hemmungen gehabt, Ampullen mit Antibiotika und Morphium, Packungen mit medizinischem Garn, sterile Nadeln, Scheren und Klammern beiseitezuschaffen: ein Vorrat, den er hoffte, nie anbrechen zu müssen.
    Klara hatte die drei nicht zum Zug begleitet. Andras hatte sich von ihr am Morgen zu Hause verabschiedet, in ihrem Schlafzimmer auf der Nefelecjcs utca. Die ersten neun Wochen ihrer Schwangerschaft waren unauffällig verlaufen, doch in der zehnten wurde Klara von einer heftigen Übelkeit überplagt, die jeden Morgen um drei Uhr begann und fast bis Mittag dauerte. An diesem Morgen war ihr stundenlang schlecht gewesen; Andras war bei ihr geblieben, während sie sich über die Toilettenschüssel beugte und würgte, bis ihr die Tränen das Gesicht hinunterliefen. Sie flehte ihn an, ins Bett zu gehen, etwas Schlaf zu bekommen, bevor er sich den Strapazen der Reise stellen musste, doch er ging nicht darauf ein, hätte den Platz an ihrer Seite um nichts in der Welt verlassen. Um sechs Uhr morgens brach Klara zusammen. Sie weinte, vor Erschöpfung zitternd, weinte, bis sie keine Stimme mehr hatte. Es sei unerträglich, flüsterte sie, unmöglich, dass Andras an einem Tag noch hier bei ihr sei, unversehrt und sicher, und am nächsten Tag in die Hölle gebracht würde, der er erst im Frühjahr entkommen war. Ihr gegeben und wieder genommen. Gegeben und genommen. Wo ihr schon so viel genommen worden sei, was sie geliebt habe. Andras konnte sich nicht erinnern, dass Klara ihre Ängste, ihr Gefühl des Verlassenseins, jemals so deutlich ausgesprochen hätte. Selbst in den schlimmsten Zeiten in Paris hatte sie immer etwas zurückgehalten, hatte etwas vor ihm verborgen, einen wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit, den sie hüten gelernt hatte, um die Katastrophen ihrer Jugend, ihre frühe Mutterschaft und ihr einsames frühes Erwachsenenleben zu überstehen. Seitdem sie verheiratet waren, hatten die Umstände Klara gezwungen, etwas von sich zurückzuhalten. Doch nun, in der Verletzlichkeit ihrer Schwangerschaft, da Andras kurz vor seinem Abschied war und Ungarn in die Hände der Nazis fiel, hatte sie keine Kraft mehr für ihre Zurückhaltung.
    Sie weinte und weinte, ohne dass sie getröstet werden konnte, ohne sich darum zu kümmern, ob es jemand hörte; als Andras sie in seinen Armen wiegte, hatte er das Gefühl, ihr dabei zuzusehen, wie sie um ihn trauerte – dass er bereits gestorben war und nun ihren Kummer bezeugte. Er strich ihr über das feuchte Haar und flüsterte immer wieder ihren Namen, dort auf den Badezimmerfliesen, und er hatte das sonderbare Gefühl, dass sie nun endgültig vermählt waren, als sei das, was bisher zwischen ihnen gewesen war, nur die Vorbereitung für diese tiefere, schmerzhaftere Verbindung gewesen. Er küsste ihre Schläfen, ihre Wangenknochen, den feuchten Rand ihres Ohrs. Und dann weinte auch er bei dem Gedanken, sie mit dem allein zu lassen, was kommen mochte.
    Kurz bevor er sich im Morgengrauen ankleiden musste, brachte er sie ins Bett und schlüpfte neben ihr hinein. »Ich tu’s nicht«, sagte er. »Die müssen mich schon von dir wegzerren.«
    »Ich schaffe das schon«, versuchte sie ihm zu sagen. »Meine Mutter ist ja bei mir. Und Ilana und Elza. Und

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