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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Polaner.«
    »Sag meinem Sohn, dass sein Vater ihn liebt«, flüsterte Andras. »Sag ihm das jeden Abend.« Er nahm die Taschenuhr seines Vaters vom Nachttisch und drückte sie Klara in die Hand. »Ich möchte, dass er sie bekommt, wenn es so weit ist.«
    »Nein«, sagte sie. »Lass das! Gib du sie ihm selbst.« Sie reichte sie ihm zurück. Und dann war es Morgen, und er musste gehen.
    Wieder die Güterwagen. Die Dunkelheit und die Enge. József war neben ihm, unweigerlich, aber auch Tibor, sein Bruder, sein Geruch so vertraut wie ihr Kinderbett. Diesmal ging es in Richtung Debrecen – als führen sie in die Vergangenheit. Andras wusste genau, was draußen an ihnen vorbeiflog: die in die Ebene übergehenden Hügel, die Felder und Gehöfte. Doch nun arbeiteten auf den Feldern, falls sie denn bewirtschaftet wurden, Kompanien von Zwangsarbeitern; die Bauern und ihre Söhne waren im Krieg. Die geduldigen Pferde scheuten vor den ungewohnten Stimmen ihrer Treiber. Die Hunde bellten die Fremden an, gewöhnten sich nicht an deren Geruch. Die Frauen beobachteten die Arbeiter argwöhnisch und ließen ihre Töchter nicht aus dem Haus. Maglód, Tápiogyörgy, Ujszász – jene Ortschaften, die nur aus einer Straße bestanden und auf deren Bahnhöfen immer noch Geranien in den Fenstern blühten: Ihnen waren die christlichen Männer im wehrfähigen Alter und die jüdischen Männer im arbeitsfähigen Alter genommen worden, und bald würden ihnen auch noch die restlichen jüdischen Bewohner geraubt werden. Die Sammlungen und Deportationen hatten bereits begonnen – Deportationen, obwohl Horthy doch geschworen hatte, das niemals zuzulassen. Döme Sztójay war nun Premierminister und tat genau das, was ihm die Deutschen befahlen. Sammle die Juden aus den kleinen Städten in den Gettos der größeren Städte. Zähle sie gründlich. Trage sie in Listen ein. Erzähle ihnen, sie würden für ein großes Arbeitsprojekt im Osten gebraucht; stelle ihnen eine Umsiedlung, ein besseres Leben in Aussicht. Weise sie an, pro Person einen Koffer zu packen. Bring sie zum Verladebahnhof, verfrachte sie in Züge. Die Züge fuhren täglich nach Westen ab, kehrten leer zurück und wurden wieder gefüllt; eine unaussprechliche Furcht legte sich über die, die zurückblieben und warteten. Die wenigen, die wie Polaner schon in einem deutschen Lager gewesen waren und davon berichten konnten, wussten, dass es keine Umsiedlung geben würde. Sie kannten den Zweck dieser Lager; sie kannten das Endprodukt des großen Arbeitsprojekts. Sie erzählten ihre Geschichten, aber niemand glaubte ihnen.
    Für Andras, Tibor und József dauerte die normalerweise vierstündige Fahrt nach Debrecen drei volle Tage. Der Zug hielt an den Bahnhöfen kleiner Orte; manchmal hörten sie, wie weitere Waggons an ihren eigenen gekoppelt wurden, noch mehr Arbeitsdienstler, die in den großen Verbrennungsmotor des Kriegs gesteckt wurden. Keine Nahrung, kein Wasser, nur das, was sie mitgebracht hatten. Kein Ort, um sich zu erleichtern, nur ein Kübel hinten im Waggon. Lange bevor sie in den Bahnhof von Debrecen einfuhren, erkannte Andras den für die Strecke typischen Rhythmus der Schienen. Im Halbdunkel schauten Tibors Augen in die von Andras und hielten seinem Blick stand. Andras wusste, dass sein Bruder an ihre Eltern dachte, die schon so viele Abschiede ertragen hatten, die bereits einen Sohn verloren hatten und deren beiden letzten Söhne nun wieder an die Front fuhren. Zwei Wochen zuvor waren Béla und Flóra in ein Getto gesperrt worden, das zufällig ihr Mietshaus auf der Simonffy utca einschloss. Es hatte keine Möglichkeit, keine Zeit gegeben, sich zu verabschieden. Jetzt befanden sich Andras und Tibor auf dem Bahnhof von Debrecen, keine fünfzehn Minuten Fußweg von jenem Getto entfernt, wenn sie den Zug hätten verlassen und durch die Stadt gehen können, ohne erschossen zu werden.
    Die ganze Nacht stand der Güterwaggon auf den Gleisen in Debrecen. Es war zu dunkel, als dass Andras die Taschenuhr seines Vaters hätte lesen können; er konnte nicht feststellen, wie spät es war, wie viele Stunden es bis zum Morgen waren. Sie wussten nicht, ob sie am Tag weiterfahren würden oder gezwungen wären, in der muffigen Dunkelheit zu verharren, während weitere Waggons an ihre gekoppelt, weitere Männer zugeladen wurden. Abwechselnd setzten sie sich hin; dösten und erwachten. Auf einmal vernahmen sie in der stillsten Stunde der Nacht Schritte auf dem Schotter vor den Waggons. Nicht

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