Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
deshalb bat Andras sie, am Bühneneingang zu warten, während er auf dem Quai de Gesvres einen Wagen heranwinkte. Inzwischen waren die Autogrammjäger verschwunden. Nach der Vorstellung hatte Madame Gérard am Bühneneingang über hundert Unterschriften verteilt. Andras führte sie am Arm zum Bordstein. Er merkte, dass ihr Tweedmantel an den Ellenbogen abgewetzt war. In der offenen Tür des Taxis blieb sie stehen und sah ihm in die Augen, der Schal umrahmte ihr Gesicht. Sie hatte eine hohe, gewölbte Stirn mit eng stehenden Augenbrauen; ihre kräftigen Wangenknochen verliehen ihr eine Würde, die zur Rolle einer Königin gepasst hätte, doch sie nutzten ihr ebenso gut in der Rolle der proletarischen Mutter.
»Sie sind neu hier«, stellte sie fest. »Wie heißen Sie?«
»Andras Lévi«, erwiderte er mit einer angedeuteten Verbeugung.
Sie wiederholte seinen Namen zweimal, wie um sich ihn besser einzuprägen. »War mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Andras Lévi. Vielen Dank, dass Sie den Wagen besorgt haben.« Sie stieg hinein, zog sich den Mantel um die Beine und schloss die Tür.
Während Andras dem Taxi nachsah, das den Quai de Gesvres in Richtung Pont d’Arcole hinunterfuhr, ließ er sich unwillkürlich noch einmal das kurze Drehbuch ihrer Unterhaltung durch den Kopf gehen. Seiner Erinnerung nach hatte sie gesagt très heureux de faire votre connaissance , was auf Ungarisch hieß: Örülök, hogy megismerhetem . Wie kam es, dass er meinte, ein Echo von örülök in ihrem très heureux gehört zu haben? Waren alle Menschen in Paris heimliche Ungarn? Er lachte laut über diese Vorstellung: All die Frauen von der Rive Droîte in ihren Pelzmänteln, die Theaterbesucher in ihren Limousinen, die jazzverrückten Kunststudenten in ihren abgetragenen Jacken, sollten sie alle einen heimlichen Appetit auf Paprikás und Bauernbrot hegen, wenn sie ihre Bouillabaisse mit Baguettes vertilgten? Als Andras den Fluss überquerte, verspürte er eine zunehmende Leichtigkeit in der Brust. Er hatte Arbeit. Er würde seinen Anteil aufbringen können. Neue Stifte lagen gespitzt auf seinem Werktisch, und es schien nicht unmöglich, dass er noch vor dem Morgen seine Zeichnungen des Gare d’Orsay fertigstellen würde.
Er arbeitete die ganze Nacht ohne Pause und schaffte es, sich auch im Unterricht am Vormittag wach zu halten. Dann nickte er in einer Ecke der Bibliothek ein und schlief mehrere Stunden. Als er schließlich erwachte, fand er eine Nachricht an seinem Revers befestigt, in Rosens Handschrift: Wir treffen uns um 5 im Colombe Bleue , du fauler Hund . Andras setzte sich auf und drückte die Fingerknöchel in die Augen. Er zog die Uhr seines Vaters aus der Tasche und schaute nach der Zeit. Vier Uhr. In drei Stunden würde er wieder im Theater sein müssen. Er wollte nur noch nach Hause ins Bett. Andras ging zur Herrentoilette, wo er entdeckte, dass seine Oberlippe im Schlaf mit einem Clark-Gable-Schnäuzer bemalt worden war. Er ließ den Schnurrbart, wo er war, kämmte sich das Haar mit den Fingern und zupfte seine Jacke zurecht.
Das Café La Colombe Bleue war einen gut halbstündigen Weg über den Boulevard Raspail und durch das Quartier Latin entfernt. Andras war der Erste, der dort eintraf; er nahm einen Tisch weiter hinten und bestellte das Billigste von der Speisekarte, ein Kännchen Tee. Das Getränk wurde mit zwei Butterkeksen serviert, in deren Mitte eine Mandel gedrückt war. Deshalb war das Colombe Bleue bei den Studenten so beliebt: Hier war man großzügig. Im Quartier Latin hatte es Seltenheitswert, wenn man zwei Plätzchen zum Kännchen Tee bekam, schon gar keine Mandelkekse. Als Andras den Tee getrunken und die Kekse gegessen hatte, waren Rosen, Polaner und Ben Yakov eingetroffen. Sie nahmen ihre Schals ab und zogen sich Stühle an den Tisch.
Rosen küsste Andras auf beide Wangen. »Hübscher Schnäuzer«, sagt er.
»Wir dachten, du wärst tot«, meinte Ben Yakov. »Oder zumindest im Koma.«
»Ich war so gut wie tot.«
»Wir haben gewettet«, sagte Ben Yakov. »Rosen setzte darauf, du würdest die ganze Nacht schlafen. Ich habe gesagt, du würdest dich hier mit uns treffen. Polaner hat sich rausgehalten, weil er pleite ist.«
Polaner lief rot an. Von den dreien stammte er aus der wohlhabendsten Familie, doch ihr Königreich war eine Textilfabrik in Krakau, und sein Vater hatte keine Vorstellung, wie teuer Paris in Wirklichkeit war. Jeden Monat schickte er Polaner ein bisschen zu wenig für Kleidung und
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