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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Novak sich durch die Bühnentür in einen feinen, beißenden Nebel. Seine Frau würde zu Hause im Schlafzimmer auf ihn warten, das Haar gelöst und nach Lavendel duftend. Doch er war keine drei Schritte in ihre Richtung gegangen, als jemand von hinten auf ihn zugelaufen kam und nach seinem Arm griff, sodass ihm die Aktentasche aus der Hand fiel. In letzter Zeit hatte es in der Nähe des Theaters eine Reihe von Überfällen gegeben; Novak war im Allgemeinen vorsichtig, doch an diesem Abend hatte der Champagner ihn leichtsinnig gemacht. Seinen im Krieg entwickelten Instinkten gehorchend, wirbelte er herum und schlug dem Angreifer in den Magen. Ein dunkelhaariger junger Mann fiel keuchend zu Boden. Zoltán Novak bückte sich, um seine Aktentasche aufzuheben, und erst da hörte er, was der junge Kerl stöhnte: Novak-úr. Novak-úr. Sein eigener Name, erweitert um die höfliche ungarische Anredeform. Das Gesicht des jungen Mannes kam ihm irgendwie bekannt vor. Novak half ihm auf die Füße und wischte nasses Laub vom Ärmel des Angreifers. Vorsichtig befühlte der seine unteren Rippen.
    »Was haben Sie sich dabei gedacht, sich so von hinten auf mich zu stürzen?«, fragte Novak auf Ungarisch und versuchte, das Gesicht des jungen Mannes besser zu erkennen.
    »Sie wollten mich ja nicht in Ihrem Büro empfangen«, brachte der hervor.
    »Hätte ich das denn tun sollen?«, fragte Novak. »Kenne ich Sie?«
    »Andras Lévi«, keuchte der junge Kerl.
    Ondresch Lévi . Der Junge aus dem Zug. Novak erinnerte sich an Andras’ Verwirrung in Wien, an seine Dankbarkeit, als Novak ihm eine Brezel geschenkt hatte. Und jetzt hatte er dem armen Kerl in den Magen geboxt. Novak schüttelte den Kopf und stieß ein tiefes, reumütiges Lachen aus. »Herr Lévi«, sagte er. »Meine aufrichtige Entschuldigung.«
    »Vielen Dank auch«, sagte der junge Mann verbittert, sich noch immer die Rippen reibend.
    »Ich habe Sie einfach umgehauen«, sagte Novak bestürzt.
    »Es geht schon.«
    »Warum begleiten Sie mich nicht ein kleines Stück? Ich wohne ganz in der Nähe.«
    Und so gingen sie gemeinsam, und Andras erzählte Novak die ganze Geschichte, begann damit, wie er das Stipendium erhalten und verloren hatte, und schloss mit dem Angebot von Pingusson. Das habe ihn noch einmal hergeführt. Er hätte einfach versuchen müssen, Novak zu sprechen. Er sei bereit, die niedrigsten Aufgaben zu übernehmen. Er würde alles tun. Er wollte die Schuhe der Schauspieler putzen, den Boden fegen oder die Aschenbecher leeren. Er musste so schnell wie möglich beginnen, seinen Anteil zu verdienen. Die erste Rate sei in drei Wochen fällig.
    In der Zwischenzeit hatten sie Novaks Haus auf der Rue de Sèvres erreicht. Oben drang Licht durch den Baumwollstoff der Schlafzimmervorhänge. Der schwere Nebel hatte Novaks Haar feucht gemacht und beperlte die Ärmel seines Mantels; Lévi neben ihm zitterte in seiner dünnen Jacke. Novak musste an das Geschäftsbuch denken, das er zugeschlagen hatte, bevor er zur Vorstellung nach oben gegangen war. In dem Buch standen in der ordentlichen roten Schrift des Buchhalters die Zahlen, die den brenzligen Zustand des Sarah-Bernhardt dokumentierten; noch ein paar verlustbringende Wochen, und sie würden schließen müssen. Andererseits: Wer wusste, was passieren würde, nun da Marcelle Gérard die Rolle der Mutter spielte? Novak wusste genau, was in Osteuropa vor sich ging, ihm war klar, dass Andras’ versiegende Gelder nur das Symptom einer weitaus ernsteren Krankheit waren. In Ungarn hatte er in seiner Jugend eine Menge brillante junge Juden gekannt, die dennoch nie eine Chance zum Studium bekommen hatten; in seinen Augen war es ein Verbrechen, dass dieser junge Kerl sich dem ebenfalls beugen sollte, nachdem er es so weit geschafft hatte. Das Bernhardt war keine karitative Einrichtung, aber der Junge bat ja auch nicht um Almosen. Er suchte Arbeit. Er war bereit, alles zu tun. Sicherlich war es im Sinne von Brechts Stück, jemandem Arbeit zu geben, der sie brauchte. Und war Sarah Bernhardt nicht selbst Jüdin gewesen? Ihre Mutter war eine holländisch-jüdische Kurtisane, und das Jüdische vererbte sich über die Mutter. Er musste es ja wissen. Novak war in einer katholischen Kirche getauft und auf katholische Schulen geschickt worden, obwohl seine Mutter Jüdin gewesen war.
    »In Ordnung, Lévi«, sagte er und legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. »Warum kommen Sie morgen Nachmittag nicht mal im Theater vorbei?«
    Und

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