Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
eine Tochter, die ein paar Jahre jünger ist als Sie. Ein sehr hübsches Mädchen namens Elisabet. Sie ist groß, blond, hervorragend in der Schule – bekommt beste Noten in Mathematik. Hat einen städtischen Mathematikwettbewerb gewonnen, das arme Ding. Ich bin mir sicher, dass sie ein wenig Ungarisch spricht, obwohl sie überzeugte Französin ist. Sie könnte Sie mit ihren Freundinnen bekannt machen.«
Ein großes blondes Mädchen, überzeugte Französin, die Ungarisch sprach und ihm eine andere Seite von Paris zeigen konnte: Dazu wollte Andras kaum Nein sagen. Im Hinterkopf hörte er Rosen necken, er könne nicht auf ewig Jungfrau bleiben. Ohne weiter nachzudenken, erwiderte er, mit Vergnügen würde er die Einladung zum Essen im Haus von Marcelle Gérards Freundin annehmen. Madame Gérard schrieb Name und Adresse auf die Rückseite ihrer eigenen Visitenkarte.
»Sonntagmittag«, sagte sie. »Ich selbst werde leider nicht kommen können. Ich habe schon eine andere Einladung. Aber ich versichere Ihnen, Sie haben von Elisabet und ihrer Mutter nichts zu befürchten.« Sie reichte ihm die Karte. »Sie wohnen nicht weit von hier, im Marais.«
Andras warf einen flüchtigen Blick auf die Karte, weil er sich fragte, ob das Haus in dem Teil des Marais stand, den er mit seinem Geschichtskurs besucht hatte; da fuhr ein kurzer Blitz durch sein Gehirn, und er musste noch einmal nachsehen. Morgenstern , hatte Madame Gérard geschrieben. 39 Rue de Sévigné.
»Morgenstern«, sagte er laut.
»Ja. Das Haus steht an der Ecke zur Rue d’Ormesson.« Dann bemerkte sie etwas Ungewöhnliches in Andras’ Gesicht. »Stimmt etwas nicht?«
Im ersten Moment hatte er das Bedürfnis, ihr von seinem Besuch im Haus auf der Benczúr utca zu erzählen, von dem Brief, den er nach Paris befördert hatte, doch dann erinnerte er sich an Frau Hász’ Bitte um Diskretion und riss sich zusammen. »Schon gut«, sagte er. »Es ist schon länger her, dass ich in feiner Gesellschaft war, mehr nicht.«
»Sie werden sich großartig schlagen«, sagte Madame Gérard. »Sie sind ein besserer Gentleman als die meisten Männer, die ich kenne.« Sie erhob sich und schenkte ihm ihr königliches Lächeln, eine Art Privatvorstellung ihrer Ausstrahlung und Eleganz; dann zog sie ihr chinesisches Gewand enger um sich und verschwand hinter den goldenen Linden ihres Paravents.
In jener Nacht saß Andras auf seinem Bett und betrachtete die Karte, die Adresse. Er wusste, dass die Welt ungarischer Immigranten in Paris klein war und dass Madame Gérard gute Beziehungen hatte, dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass dieser Zufall eine tiefere Bedeutung besaß. Er war überzeugt, dass sein Gedächtnis ihn nicht trog; er hatte den Namen Morgenstern nicht vergessen, ebenso wenig die Straße, Rue de Sévigné. Ihn elektrisierte die Vorstellung, dass er nun herausfinden würde, ob Tibor recht gehabt hatte, als er annahm, der Brief sei an den ehemaligen Liebhaber der älteren Frau Hász adressiert. Würde er bei den Morgensterns auf einen weißhaarigen Herrn treffen – vielleicht den Schwiegervater von Madame Morgenstern –, ebenjenen geheimnisvollen C. ? Was hatten die Hász aus Budapest mit einer Ballettlehrerin im Marais zu tun? Und wie sollte er das alles vor József Hász unerwähnt lassen, wenn er ihn das nächste Mal sah?
Doch in den folgenden Tagen sollte er nur wenig Zeit haben, über den näher rückenden Besuch bei den Morgensterns nachzudenken. Es war nur noch ein Monat bis zum Ende des Semesters, in drei Wochen würden die Herbstprojekte aller Studenten beurteilt werden. Andras’ Arbeit war ein Modell des Gare d’Orsay, gebaut nach seiner Planzeichnung; die Zeichnungen waren fertig, mit dem Modell selbst musste er noch anfangen. Er würde Material kaufen und topografische Karten studieren müssen, um das Fundament bauen zu können, musste Schablonen für die Wände des Modells anfertigen, Formen ausschneiden, Bogenfenster, Zifferblätter der Uhren und all die Steinarbeiten zeichnen und sie auf dem fertigen Werkstück anbringen. Die ganze Woche verbrachte Andras im Atelier inmitten seiner Pläne. Nachts, nach der Arbeit, nahmen ihn die Vorbereitungen für seine Statikprüfung in Anspruch, und nachmittags besuchte er eine Vorlesung von Perret über die unglückselige Fonthill Abbey, eine Kathedrale aus dem 19. Jahrhundert, deren Turm aufgrund schlechter Planung, übereilter Bauweise und der Verwendung minderwertiger Baumaterialien dreimal
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