Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Verpflegung. Im schmerzlichen Bewusstsein seiner wachsenden Schulden beim Vater brachte es Polaner nicht über sich, um mehr Geld zu bitten. Als privilegiertes Kind hatte er nie gearbeitet und schien eine Nebenbeschäftigung auch nicht in Erwägung zu ziehen, um seine Lage zu verbessern. Stattdessen bestellte er im Café nur heißes Wasser, flickte seine Schuhe mit dickem Karton, der vom Modellbau übrig war, und nahm das restliche Brot aus der Kantine mit nach Hause.
Da Andras’ Taschen voller Geld waren, war es nun an ihm, den anderen etwas auszugeben. Sie wählten kleine Gläser mit Whisky Soda, dem Drink der amerikanischen Filmstars. Sie fluchten auf die ungarische Regierung und deren Versuch, Andras aus ihrer Mitte zu entfernen, dann stießen sie auf seine neue Rolle als Kurier von Liebesbriefen und Ausführer von Schauspielerhündchen an. Als die Gläser leer waren, bestellten sie noch eine große Kanne Tee.
»Ben Yakov hat heute Abend noch ein Stelldichein«, verkündete Rosen.
»Was soll das sein, ein Stelldichein?«, fragte Andras.
»Ein Rendezvous. Ein Treffen. Offenbar romantischer Natur.«
»Mit wem?«
»Ach, nur mit der schönen Lucia«, sagte Rosen, und Ben Yakov verschränkte die Finger und dehnte sie in stummem Stolz. Stille legte sich über den Tisch. Alle verehrten Lucia mit ihrer tiefen Samtstimme und der schimmernden Mahagonihaut. Alleine nachts im Bett hatte sich jeder von ihnen vorgestellt, wie sie aus ihrem Kleid und ihrer Unterwäsche stieg und nackt im verdunkelten Zimmer stand. Tagsüber hatte Lucia sie mit ihrem Talent im Atelier beschämt. Sie arbeitete nicht nur im Sekretariat; sie war Studentin im vierten Jahr, eine der besten in ihrer Klasse, und man erzählte sich, dass Mallet-Stevens ihre Arbeit besonders schätzte.
»Auf Ben Yakov!«, sagte Andras und hob seine Tasse.
»Prost!«, sagten die anderen. Ben Yakov hob in falscher Bescheidenheit die Hand.
»Natürlich wird er uns nie erzählen, was da läuft«, sagte Rosen. »Ben Yakov behält seine Affären für sich.«
»Anders als Monsieur Rosen«, gab Ben Yakov zurück. »Monsieur Rosens Affären sind für alle da. Wenn das nur deine Damen wüssten!«
»Dies ist die Stadt der Liebe«, sagte Rosen. »Wir sollten alle Liebe machen.« Er benutzte das vulgäre Wort – baiser . »Was ist, Polaner? Bin ich anstößig?«
»Ich habe nicht zugehört«, sagte Polaner.
»Polaner ist ein Gentleman«, sagte Ben Yakov. »Gentlemen ne baisent pas .«
»Ganz im Gegenteil«, bemerkte Andras. »Gentlemen sind große baiseurs . Ich habe gerade Les Liaisons Dangereuses gelesen. Da wimmelt es vor Gentlemen baisant .«
»Ich bin mir nicht sicher, ob du überhaupt für dieses Thema qualifiziert bist«, sagte Rosen. »Polaner hat zu Hause wenigstens eine petite amie . Seine Krakauer Zukünftige, nicht wahr?« Er knuffte Polaner in die Schulter, und Polaner errötete wieder; er hatte mehrmals Briefe von einem Mädchen erwähnt, die Tochter eines Wollfabrikanten, die zu heiraten sein Vater von ihm erwartete. »Er hat es schon gemacht, ob er nun gern drüber redet oder nicht«, sagte Rosen. »Aber du, Andras, du hast es noch nie getan.«
»Das ist eine Lüge«, sagte Andras, obwohl es stimmte.
»Paris ist voller Mädchen«, sagte Rosen. »Wir sollten ein Stelldichein für dich arrangieren. Professioneller Natur, meine ich.«
»Mit wessen Geld?«, fragte Ben Yakov.
»Früher hatten Künstler doch Wohltäter, oder?«, sagte Rosen. »Wo sind unsere Wohltäter?« Er stand auf und wiederholte die Frage für alle im Raum mit voller Lautstärke. Einige Stammgäste hoben ihr Glas. Doch es war kein zukünftiger Wohltäter unter ihnen; es waren Studenten mit einer Teekanne und zwei Plätzchen, mit linken Zeitungen und verschlissenen Mänteln.
»Wenigstens habe ich eine Arbeit«, sagte Andras.
»Na, dann heißt es sparen, sparen, sparen!«, sagte Rosen. »Du kannst ja nicht auf ewig Jungfrau bleiben.«
Auf der Arbeit hetzte Andras von einer Aufgabe zur nächsten wie ein Sous-Chef, der bei der Vorbereitung eines zwölfgängigen Menüs assistierte; kaum hatte er einen Auftrag erledigt, kam schon der nächste, alles unter wachsendem Zeitdruck. Claudel, der Assistent des Inspizienten, war Baske und besaß ein Temperament, das sich oft in herumgeschleuderten Requisiten niederschlug, die dann repariert werden mussten, bevor sie auf der Bühne gebraucht wurden. Aus Protest hatte der Requisiteur gekündigt, und das Requisitenlager war zu allem Übel auch
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