Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
würde nicht weinen, nicht hier an einer Straßenecke in Boulogne-Billancourt. Mit der Schuhsohle scharrte er auf dem Bürgersteig. Er musste eine Möglichkeit finden, die andere Hälfte des Geldes aufzutreiben. Wenn Perret für ihn gezaubert hatte, wenn er aus nichts etwas für ihn gemacht hatte, wenn er Andras für einen Ehrenmann hielt, dann war das Mindeste, was Andras tun konnte, die Herausforderung von Pingusson anzunehmen. Er würde alles tun, was nötig war. Wie lange hatte er bisher nach einer Arbeit gesucht? Ein paar Tage? Die Stadt Paris war riesengroß. Er würde Arbeit finden. Er musste.
Es gab Zeiten, da schien ein gutmütiger Geist über dem Théâtre Sarah-Bernhardt zu wachen, Zeiten, in denen ein Stück eigentlich hätte Schiffbruch erleiden müssen, es aber nicht tat. Am Abend von Marcelle Gérards Debüt als Mutter schien alles auf eine Katastrophe zuzusteuern; eine Stunde vor Beginn tauchte Marcelle in Novaks Büro auf und drohte zu gehen. Sie fühle sich nicht bereit für den Auftritt, sagte sie. Sie würde sich vor ihrem Publikum, den Kritikern, dem Minister blamieren. Novak nahm ihre Hände und flehte sie an, vernünftig zu sein. Er wüsste, dass sie die Rolle spielen könne. Beim Vorsprechen sei sie wundervoll gewesen. Die Rolle sei nur an Claudine Villareal-Bloch gegangen, weil Novak Madame Gérard nicht habe bevorzugen wollen. Ihre Affäre mochte inzwischen längst vorbei sein, aber es würde noch immer geredet; er hätte Angst, dass seiner Frau etwas zu Ohren käme, wo die Situation zwischen ihnen schon angespannt genug sei. Marcelle hatte das natürlich verstanden; hatten sie nach ihrem Entschluss nicht darüber gesprochen? Niemals hätte er in Erwägung gezogen, sie an diesem Abend auftreten zu lassen, wenn er nicht davon überzeugt wäre, dass sie perfekt für die Rolle sei. Ihre Ängste wären völlig normal. Habe nicht Sarah Bernhardt selbst 1879 bei ihrer Darstellung der Phädra einen lähmenden Anfall von Lampenfieber überstanden? Novak sei felsenfest davon überzeugt, dass Marcelle zu Brechts Vision dieser Rolle werden würde, sobald sie die Bühne betrat. Das müsse sie doch auch wissen. Etwa nicht? Doch als Novak fertig war, entzog Madame Gérard ihm ihre Hände, begab sich wortlos in ihre Garderobe und ließ Novak allein zurück.
Vielleicht war es die aufrichtige Kraft seiner Sorgen, die Sarah Bernhardts Geist an jenem Abend aus den Mauern des Theaters rief. Vielleicht waren es die kollektiven Bedenken von Ensemble und Mitarbeitern, von Beleuchtern, Platzanweisern, Kostümbildnern, dem Hausmeister und dem Garderobenmädchen. Aus welchem Grund auch immer: Als es neun Uhr schlug, war Madame Gérards Unschlüssigkeit verflogen. Der Minister saß in seiner Loge und nippte unauffällig an seinem silbernen Flachmann; Lady Mendl und die ehrenwerte Mrs. Reginald Fellowes waren bei ihm, Lady Mendl mit Pfauenfedern im Haar und Daisy Fellowes in einem schillernden Kostüm von Schiaparelli aus jadegrüner Seide. Der Krieg in Spanien machte das kommunistische Theater in Frankreich modern. Das Haus war ausverkauft. Das Licht wurde schwächer. Und dann trat Marcelle Gérard auf die Bühne und sprach mit einer Stimme, so pflaumig weich wie die von Sarah Bernhardt selbst. Von seinem Platz in der Kulisse beobachtete Zoltán Novak, wie Madame Gérard eine Interpretation von Die Mutter lieferte, die die liebestrunkene Darbietung von Claudine Villareal-Bloch in den Schatten stellte. Er stieß einen so wohligen, so tiefen Seufzer der Erleichterung aus, dass er seiner Frau dankbar war, ihm den brustverengenden Trost seiner Zigaretten verweigert zu haben. Mit ein wenig Glück würde er diese Sucht für immer hinter sich lassen. Der Aufenthalt in den medizinischen Bädern von Budapest hatte das Blut und den Schmerz aus seiner Lunge gewaschen. Das Stück war nicht durchgefallen. Und sein Theater würde eventuell doch überleben, trotz der langen roten Zahlenreihen in seinen Geschäftsbüchern und der Schulden, die sich Woche für Woche erhöhten.
Als Novak nach der Vorstellung auch noch vom Minister gelobt wurde und das Kompliment an die errötende, atemlose Marcelle Gérard weitergegeben hatte, war er in solch überschwänglicher Stimmung, dass er gleich zwei Glas Champagner annahm und leerte, eins nach dem anderen, direkt im Flur vor der Garderobe. Bevor Novak ging, rief Marcelle ihn in ihr Heiligtum und küsste ihn auf den Mund, einmal, fast keusch, als sei nun alles vergeben. Um Mitternacht schob
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