Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Andras schenkte Novak ein derart strahlendes, dankbares Lächeln, dass der Ältere einen flüchtigen Schreck bekam. So viel Vertrauen. So viel Hoffnung. Er wollte nicht wissen, was die Welt mit einem jungen Mann wie Andras Lévi anstellen würde.
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6.
Arbeit
BEI DER PRODUKTION WIRKTEN siebenundzwanzig Schauspieler mit: neun Frauen, achtzehn Männer. Sie arbeiteten sechs Tage die Woche und hatten in der Zeit sieben Aufführungen. In den Kulissen hatten sie zwischendurch immer wieder kurz Zeit zu verschnaufen – und um eine erstaunliche Vielzahl an Bedürfnissen zu artikulieren. Ihre Kostüme mussten genäht und gebügelt werden, ihre Schoßhündchen ausgeführt, ihre Briefe eingeworfen, ihre gereizten Stimmbänder mit Tee besänftigt, ihre Mahlzeiten bestellt. Gelegentlich benötigten sie die Dienste eines Zahnarztes oder Doktors. Sie mussten ihren Text üben oder kurze stärkende Nickerchen machen. Sie mussten ihre heimlichen Liebschaften pflegen. Zwei der Männer waren in zwei der Damen verliebt, aber die beiden Angebeteten bevorzugten jeweils den Falschen. Nachrichten flogen zwischen den verliebten Parteien hin und her. Blumensträuße wurden geschickt, angenommen, zerrissen; Pralinen wurden gesendet und vernascht.
In dieses Chaos ließ sich der arbeitswillige Andras hinab, und der Assistent des Inspizienten gab ihm sofort mehrere Aufgaben. Als Monsieur Hammond ein Schuhband riss, musste Andras ein neues besorgen. Wenn der Bichon frisé von Madame Pillol gefüttert werden musste, hatte Andras das zu übernehmen. Nachrichten mussten zwischen dem Intendanten und den Hauptdarstellern, zwischen Inspizient und seinem Assistenten, zwischen den heimlichen Liebespaaren übermittelt werden. Als die verdrängte Claudine Villareal-Bloch ins Theater kam und ihre Rolle zurückforderte, galt es, sie mit Lob zu beschwichtigen. (Tatsächlich verhielt es sich so, wie der stellvertretende Inspizient Andras erzählte, dass Villareal-Bloch ausgemustert worden sei; Marcelle Gérard sorgte mit ihrer Rolle für einen Riesenumsatz. Zum ersten Mal seit fünf Jahren sei das Bernhardt jeden Abend ausverkauft.) Andras war unklar, wie man im Sarah-Bernhardt hinter den Kulissen alles bewerkstelligt hatte, bevor er engagiert worden war. Als an seinem ersten Arbeitstag die Vorstellung begann, war er zu erschöpft, um von hinten zuzuschauen. Er schlief auf einem Sofa ein, das für den zweiten Akt benötigt wurde, was er jedoch nicht wusste, sodass er unsanft erwachte, als zwei Bühnenarbeiter es anhoben, um es nach vorne zu tragen. Andras kraxelte gerade noch rechtzeitig herunter, als die Schauspieler die Bühne nach dem ersten Akt verließen, und wurde sogleich mit zahllosen Hilfegesuchen überhäuft.
Er blieb noch lange, nachdem die Vorstellung vorbei war. Claudel, der Stellvertreter des Inspizienten, hatte ihm eingeschärft, er dürfe erst Schluss machen, wenn der letzte Schauspieler nach Hause gegangen sei; an jenem Abend war es Marcelle Gérard, die am längsten blieb. Am Ende stand Andras vor ihrer Garderobe und wartete, dass sie ihr Gespräch mit Zoltán Novak beendete. Durch die Garderobentür konnte er die Erregung in Madame Gérards schnellem Französisch hören. Ihm gefiel der Klang, und er dachte, dass es ihn nicht stören würde, wenn er noch etwas für sie erledigen sollte, bevor er nach Hause ging. Schließlich tauchte Monsieur Novak auf, und ein vage besorgter Blick warf seine Stirn in Falten. Er wirkte überrascht, Andras vor der Tür zu sehen.
»Es ist Mitternacht, mein Junge«, sagt er. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
»Monsieur Claudel hat mich angewiesen zu bleiben, bis alle Schauspieler gegangen sind.«
»Aha. Na dann, gut. Hier haben Sie was fürs Abendessen, einen Vorschuss auf Ihre Bezahlung nächste Woche.« Novak reichte Andras eine gefaltete Geldnote. »Holen Sie sich was Kräftigeres als eine Brezel«, sagte er und ging, sich den Nacken reibend, den Korridor hinunter zu seinem Büro.
Andras faltete den Schein auseinander. Es waren zweihundertfünfzig Francs, genug für zwei Wochen Essen in der Studentenkantine. Erleichtert pfiff er leise vor sich hin und schob das Geld in seine Jackentasche.
Madame Gérard kam aus ihrer Garderobe, das breite Gesicht ohne die Bühnenschminke schlicht und blass. Sie trug eine Tasche aus einem türkischen Kelim, und ihr Schal war so eng gebunden, als hätte sie einen langen Heimweg vor sich. Doch Claudel hatte gesagt, dass Madame Gérard mit dem Taxi fahren würde,
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