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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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noch schlecht sortiert. Claudel terrorisierte die Souffleure und die Bühnenarbeiter, den Intendanzassistenten und die Gewandmeisterin; er terrorisierte sogar seinen eigenen Vorgesetzten, den Inspizienten selbst, Monsieur d’Aubigné, der zu viel Angst vor Claudels Wutausbrüchen hatte, um sich bei Monsieur Novak zu beschweren. Doch ganz besonders terrorisierte Claudel Andras, der sich bemühte, immer zur Stelle zu sein. Andras wusste, dass er es nicht böse meinte. Claudel war ein Perfektionist, und jeder Perfektionist musste angesichts des Chaos hinter den Kulissen des Bernhardt einfach wahnsinnig werden. Nachrichten gingen verloren, herrenlose Requisiten flogen herum, Teile von Kostümen wurden verlegt; nie wusste jemand, wie lange es noch bis zum Vorhang oder zum Ende der Pause war. Es glich einem Wunder, dass die Vorstellungen überhaupt stattfanden. In seiner ersten Woche bastelte Andras Ablagefächer für den Austausch von Nachrichten zwischen dem Inspizienten, seinem Assistenten, dem Intendanten, dem Ensemble und den Mitarbeitern; er kaufte zwei billige Wanduhren und hängte sie in die Kulissen; er nagelte ein paar grobe Regale zusammen, sortierte die Requisiten darin ein und versah jedes Fach mit einer Angabe zu der Szene, in der die Requisite benötigt wurde. Innerhalb weniger Tage breitete sich eine gewisse Ruhe hinter der Bühne aus. Ganze Akte verstrichen ohne einen Wutausbruch von Claudel. Die Bühnenarbeiter erwähnten die Veränderung beim Inspizienten, der wiederum mit Zoltán Novak darüber sprach, und Novak gratulierte Andras. Ermutigt durch seinen Erfolg, bat Andras um fünfundsiebzig Francs wöchentlich, damit er für alle hinter der Bühne einen Tisch mit Kaffee, Sahne, Schokoladenplätzchen, Marmelade und Brot aufstellen könne, und erhielt sie auch. Bald war sein Postfach voll mit Dankesbekundungen.
    Vor allem Madame Gérard schien Andras in ihr Herz geschlossen zu haben. Immer häufiger rief sie ihn nicht nur, damit er Aufträge für sie erledigte, sondern auch um ihr Gesellschaft zu leisten. Wenn die übrigen Schauspieler nach der Vorstellung gegangen waren, hatte sie ihn gern bei sich in der Garderobe, damit sie ein wenig Unterhaltung hatte, während sie sich abschminkte. Ihre Rückverwandlung dauerte so lange, dass Andras nach einiger Zeit vermutete, sie fürchte sich davor, nach Hause zu gehen. Er wusste, dass sie allein lebte, allerdings nicht, wo; er stellte sich eine roséfarbene Wohnung vor, tapeziert mit alten Theaterplakaten. Madame Gérard sprach nur wenig über ihr eigenes Leben, erzählte ihm lediglich, dass er ihre Herkunft richtig erraten hatte: Sie war in Budapest geboren, und ihre Mutter hatte der jungen Marcelle beides beigebracht: Französisch und Ungarisch. Doch von Andras verlangte sie, ausschließlich Französisch mit ihr zu sprechen; Übung sei der beste Weg, die Sprache zu lernen. Sie wollte alles über Budapest hören, über Andras’ Arbeit bei Vergangenheit und Zukunft , über seine Familie; er erzählte ihr von Mátyás’ Liebe zum Tanz und Tibors bevorstehendem Aufbruch nach Modena.
    »Und spricht Tibor Italienisch?«, fragte sie, während sie sich Creme in die Stirn massierte. »Hat er die Sprache gelernt?«
    »Er wird sie schneller beherrschen als ich Französisch. In der Schule hat er drei Jahre in Folge die höchste Auszeichnung in Latein erhalten.«
    »Und freut er sich schon?«
    »Doch, sehr«, sagte Andras. »Aber er kann nicht vor Januar fahren.«
    »Und für was interessiert er sich außer der Medizin?«
    »Für Politik. Den Zustand der Welt.«
    »Na, das ist verzeihlich bei einem jungen Mann. Und darüber hinaus? Was macht er in seiner Freizeit? Hat er eine Freundin? Muss er jemanden in Budapest zurücklassen?«
    Andras schüttelte den Kopf. »Er arbeitet Tag und Nacht. Er hat keine Freizeit.«
    »Tatsächlich?«, sagte Madame Gérard und wischte mit einem rosafarbenen Samtschwamm über ihre Wangen. Sie warf Andras einen nachdenklich prüfenden Blick zu, hob die Augenbrauen zu schmalen Zwillingsbögen. »Und wie steht es bei Ihnen?«, fragte sie. »Sie müssen doch eine Freundin haben.«
    Andras lief dunkelrot an. Noch nie hatte er mit einer älteren Frau über dieses Thema gesprochen, nicht einmal mit seiner Mutter. »Keine Spur davon«, sagte er.
    »Verstehe«, meinte Madame Gérard. »Dann haben Sie ja vielleicht nichts gegen eine Einladung zum Mittagessen bei einer Freundin von mir. Eine Ungarin, die ich kenne, eine begabte Ballettlehrerin, hat

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