Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Segeltuch geschlafen – wurden sie von Glockengeläut geweckt. Alle Glocken in der nächstgelegenen Stadt Siófok schlugen unheilvoll, als stehe eine große Katastrophe bevor. Andras und József verließen das Bootshaus und beobachteten, wie die Stadtbevölkerung aus den Häusern strömte und in einer stummen Prozession in die Stadtmitte zog. Andras und József folgten der Menschenmenge zum Marktplatz, wo der Bürgermeister – ein kriegsmagerer älterer Herr in einem schlecht sitzenden Jackett – die Stufen zum Gerichtsgebäude emporstieg und verkündete, dass der Krieg in Europa vorbei war. Hitler sei tot. Deutschland habe in Reims die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. Um 23 : 01 Uhr war damit der Krieg an allen Fronten offiziell vorbei.
Die Menschenmenge: ein einziger Pulsschlag des Schweigens; dann feierten sie, jubelten und warfen ihre Hüte in die Luft. In dem Moment schien nicht wichtig zu sein, dass Ungarn auf der Verliererseite stand, dass seine leuchtende Hauptstadt an der Donau in Schutt und Asche gelegt worden war, dass das Land nun unter sowjetischer Kontrolle stand, dass sein Volk nichts zu essen hatte, dass die Gefangenen noch nicht zurückgekehrt, die Toten für immer fort waren. Wichtig war, dass der Krieg in Europa vorbei war. Andras und József nahmen sich in die Arme und weinten.
Die Anhöhen östlich von Buda standen in zarter Blüte, gleichgültig gegenüber den Toten und Trauernden. Die blühenden Linden und Platanen kamen Andras beinahe obszön vor, unangemessen, wie Mädchen in durchsichtigen Batistkleidern auf einer Beerdigung. Zusammen mit József wanderte er durch die zerstörten Straßen an der Ostseite des Burgbergs; oben hielten sie inne und blickten schweigend über die Stadt. Die herrlichen Donaubrücken – Margaretbrücke, Kettenbrücke, Elisabethbrücke, all diese Brücken, von denen Andras jeden Zentimeter kannte –, jede einzelne war zerstört, so weit er sehen konnte, Stahlseile und Betonpfeiler hingen im sandigen Gebrodel des Flusses. Der Königspalast war zur Form eines zerbröckelnden Kamms gebombt worden, der antike Haarschmuck einer Römerin, ausgegraben in einer alten Ruinenstadt. Die Hotels an der anderen Seite waren zusammengefallen; verspätet schienen sie flehend am Ufer zu knien.
Stumm vor Entsetzen, dem Blick des anderen ausweichend, stolperten Andras und József die Straßen der Altstadt hinunter zum Fluss. Sie wussten, dass sie ihn überqueren mussten, dass, was auch immer sie erwartete, am anderen Ufer war, in den Überresten von Pest. In der Nähe des Ybl Miklós tér, dem Platz, der nach dem Architekten des Operaház benannt war, fanden sie eine Slipstelle, wo mehrere Bootsführer darauf warteten, Passagiere hinüberzusetzen. Für die Überfahrt tauschten sie ihre letzten sechs Zigarettenpäckchen ein. Der Bootsführer, ein rotgesichtiger junger Bursche mit Strohhut, sah außergewöhnlich wohlgenährt aus. Als das Boot durchs Wasser schnitt, hatte Andras ein Gefühl in der Brust, als würde eine Hand durch sein Lungengewebe kratzen; sein Zwerchfell zog sich unter so schmerzhaften Krämpfen zusammen, dass er keine Luft mehr bekam. Der Kahn, ein leckes Ruderboot, kam flussabwärts nur langsam voran und drohte zweimal zu kentern, ehe er die beiden Männer schwindelnd und zitternd am Ufer von Pest absetzte. Sie sprangen in den feuchten Sand unterhalb der Uferstraße, und das Wasser leckte an ihren Schuhen. Dann stiegen sie die Steinstufen empor und blickten in einen Korridor aus zerstörten Häusern. Auf beiden Seiten standen nur noch wenige unversehrte Gebäude; einige besaßen sogar noch die bunten Kacheln ihrer schmückenden Mosaike und die Blätter und Blumen ihrer barocken Verzierungen. Doch der Weg ins Stadtzentrum führte Andras und József durch ein Museum der Zerstörung: endlose Schuttberge, zersplitterte Holzbalken, zerbrochene Fliesen, zerbombter Beton. Die Toten waren längst aus den Straßen abtransportiert worden, an jeder Ecke standen Kreuze. Man sah auch Zeichen normalen Lebens, als würde dieses Unglück völlig ignoriert: ein sauberes Schaufenster voller Teigwaren in den vertrauten Formen, ein an eine Veranda gelehntes rotes Fahrrad, aus der Ferne das unwahrscheinliche Scheppern einer Straßenbahnglocke. Etwas weiter ragte das Skelett eines deutschen Flugzeugs aus dem obersten Stockwerk eines Hauses. Ein Teil des verbrannten Flügels war auf den Boden gefallen; der Rost an den Rändern zeigte, dass er dort schon seit Monaten lag.
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