Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
das Kind in ihrem Bauch zu schonen. Doch die Schwangerschaft erschien Klara wie grausame Ironie, wie die Verhöhnung eines Versprechens. Als Klara eines Tages um Brot anstand, hörte sie, wie sich zwei alte Frauen über sie unterhielten, als ob sie gar nicht anwesend wäre oder nichts hören könne: Sieh dir die arme schwangere Jüdin an. Wie schade, dass sie keine Zukunft hat.
Tatsächlich schrumpfte Tag für Tag die Aussicht auf eine wie auch immer geartete Zukunft jenseits des Krieges. Sie lebten in permanenter Angst vor der Deportation; aus den Städten der Umgebung kamen Nachrichten, dass Tausende in Zügen abtransportiert worden seien. In der Hauptstadt selbst lebten sie ebenfalls in Angst und Schrecken: regelmäßige Polizeirazzien in Häusern mit gelbem Stern, die umgesiedelten Familien wurden bestohlen, Männer wie Frauen wurden nur aus dem einzigen Grund verhaftet, weil sie zufällig zu Hause waren, als die Polizei kam. Manchmal gab es Grund zur Hoffnung, Grund zum Glauben, der Albtraum sei bald vorbei; im Juli untersagte Horthy sämtliche weitere Deportationen von Juden aus Ungarn. Die Budapester Juden glaubten, sie wären gerettet. Auf der Straße hörte Klara Gerüchte, es gebe Gespräche zwischen Ungarn und den Alliierten, Pläne für einen Waffenstillstand. Mitte Oktober erfolgte Horthys Ankündigung, Ungarn habe Frieden mit den Russen geschlossen. Einige Stunden lang wurde auf den Straßen ausgelassen gefeiert. Männer rissen die gelben Sterne über ihren Türen herunter, Frauen entfernten die gelben Aufnäher von den Ärmeln ihrer Kinder. Doch dann kam der furchtbare Doppelschlag: der Staatsstreich der Pfeilkreuzler und Szálasis Ernennung zum Premierminister. Die Deportationen wurden wieder aufgenommen, diesmal auch in Budapest: Zehntausende Männer und Frauen wurden aus ihren Häusern gezerrt und mussten zur Ziegelei nach Óbuda gehen, von wo aus sie nach Österreich gebracht wurden. Auch in ihrem Mietshaus war ein Mann von der Nyilas aufgekreuzt: Klara und Ilana wurden nur verschont, weil ihre Männer Dienst beim Munkaszolgálat leisteten.
Der Frontverlauf des Krieges rückte unablässig näher. Hitler, der die Russen auf keinen Fall nach Wien lassen wollte, entschied, sie so lange wie möglich in Budapest aufzuhalten; als der Winter näher kam, verschanzten sich deutsche und ungarische Truppen zu einem – wie alle längst wussten – aussichtslosen Kampf. Die Rote Armee zog einen immer enger werdenden Ring um die Stadt. Luftangriffe trieben die verängstigten Bürger jede Nacht unter die Erde. Manchmal kam es Klara vor, als lebten sie in einem Luftschutzbunker, als verbrächten sie ihr gesamtes Leben zusammengedrängt im Dunkeln. Es gab Augenblicke, in denen sie die erschütternde Detonation beinahe herbeisehnte, die sie schon tausendmal im Kopf durchlebt hatte, die erdrückende Dunkelheit, die alles auslöschen würde. Doch als Kleins Großmutter eines Morgens mit der Ziegenmilch kam, brachte sie ein Fünkchen Hoffnung mit: Ein paar Frauen und Kinder aus ihrem Mietshaus seien in ein Schutzhaus des Internationalen Roten Kreuzes am Szabadság tér gezogen, mitten im Stadtzentrum. Klara und Ilana sollten so schnell wie möglich hingehen, sollten versuchen, dort unterzukommen, solange noch Platz sei. Wenn Klara Glück hätte, könnte sie ihr Kind dort zur Welt bringen. Sicherlich wäre die Chance größer, ärztliche Hilfe zu finden, wenn sie unter dem Schutz des Internationalen Roten Kreuzes stände.
Am nächsten Tag kam der Befehl, dass die Juden Ende November erneut umziehen müssten, diesmal ins Getto im siebten Bezirk. Es war keine Zeit zu verlieren. Am selben Nachmittag holten Klara und Ilana im Büro des Roten Kreuzes auf der Vadász utca Erkundigungen ein und erfuhren, dass Kleins Großmutter recht gehabt hatte: Es gab ein Schutzhaus für Frauen und Kinder am Szabadság tér. Klara und Ilana erhielten Papiere, die es ihnen gestatteten, noch am selben Tag die Kinder dorthin zu bringen. Sie gingen nach Hause und packten ihr letztes Geld, ihre letzten Wertsachen, Windeln und Kinderkleidung, ein paar Laken und Decken ein; dann luden sie die Bündel in Tamás’ und Ádáms Kinderwagen und steckten die Kinder in ihre wärmsten Mäntel. Anschließend verabschiedete sich Klara zum letzten Mal von Elza Hász und ihrer eigenen Mutter – obwohl sie zu dem Zeitpunkt nicht wusste, dass es das letzte Mal war. Ihre Mutter drückte ihre Ehe- und Verlobungsringe in Klaras Hand.
»Sei nicht
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