Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
dunkel. Die nächste Nacht. Irgendjemand – Tibor? – kippte ihm Wasser in den Mund; Andras würgte, schluckte. Am Morgen kroch er aus dem Güterwagen, wollte seinem eigenen Gestank entfliehen. Unerklärlicherweise fühlte sich sein Kopf klarer an. Er hielt inne, kniete sich hin und stieß die Hand in die Tasche seines Mantels, wo er immer das Brot aufbewahrt hatte, wenn es welches gab. Die Tasche war sandig vor Krumen. Andras robbte zu einer Pfütze, wo die Sonne den Schnee geschmolzen hatte. In einer Hand hielt er die Krumen. Mit der anderen schöpfte er Wasser aus der Pfütze. Er rührte eine kalte Paste an, führte die Hand an den Mund, aß. Es war die erste feste Nahrung seit zwanzig Tagen, auch wenn er das nicht wusste.
Etwas später erwachte er im Güterwagen; József Hász beugte sich über ihn, zwang ihn, sich aufzusetzen. »Versuch es wenigstens«, sagte József und hob ihn unter den Achseln an.
Andras stemmte sich hoch. Schwarze Meereswellen schwappten über seinem Kopf zusammen. Dann zogen sie sich zurück, wie ein Wunder. Er sah das vertraute Innere des Wagens. Neben ihm kniete József und stützte ihn mit beiden Händen im Rücken.
»Du musst dich jetzt hinstellen«, sagte er.
»Warum?«
»Gleich kommt einer, der Männer für einen Arbeitseinsatz sucht. Wer nicht arbeiten kann, wird erschossen.«
Andras wusste, dass er nicht für einen Arbeitseinsatz ausgewählt werden würde. Er konnte kaum den Kopf heben. Und dann fiel es ihm wieder ein. »Tibor?«
József schüttelte den Kopf. »Nur ich.«
»Wo ist mein Bruder, József? Wo ist mein Bruder? «
»Sie brauchen dringend Arbeiter«, sagte József. »Sie nehmen jeden, der stehen kann.«
»Wer?«
»Die Deutschen.«
»Sie haben Tibor mitgenommen?«
»Ich weiß es nicht, Andráska«, sagte József, und seine Stimme brach. »Ich weiß nicht, wo er ist. Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesehen.«
Tränen traten Andras in die Augen: jetzt zu sterben, nach alldem. Doch József packte ihn unter den Armen und hievte ihn auf die Füße. Andras sackte gegen ihn. József schwankte und jaulte auf vor Schmerz; sein vom Gips befreites gebrochenes Bein war noch nicht richtig geheilt. Doch er packte Andras um die Taille und bugsierte ihn an die Tür des Güterwaggons. Schob sie zur Seite. Führte Andras eine Rampe hinunter auf den kalten nackten Boden des Bahnhofs. Glühende Nadelstiche schossen von Andras’ Füßen hoch in die Beine. In seiner Seite, entlang der Operationswunde, ein dumpfes orangerotes Brennen.
Ein SS -Offizier stand vor einer Reihe Zwangsarbeiter, inspizierte ihre verschmutzten, zerschlissenen Mäntel und Hosen, ihre lumpenumwickelten Füße. Die Füße von Andras und József waren bloß.
Der Offizier räusperte sich. »Alle, die arbeiten wollen, treten vor.«
Alle Männer traten vor. József zog Andras mit sich, dessen Beine gaben nach. Andras fiel mit Händen und Knien auf den nackten Boden. Der Offizier kniete sich neben ihn; er legte eine Hand in Andras’ Nacken und griff in seine Manteltasche. Andras dachte an den Lauf einer Pistole, einen lauten Knall, explodierendes Licht. Zu seinem Entsetzen merkte er, dass sich seine Blase entleerte.
Der Offizier hatte ein Taschentuch hervorgeholt. Er wischte Andras die Stirn ab und half ihm auf die Füße.
»Ich möchte arbeiten«, brachte Andras auf Deutsch hervor.
»Wie willst du arbeiten?«, fragte der Offizier. »Du kannst nicht mal stehen.«
Andras sah dem Mann ins Gesicht. Er wirkte fast ebenso hungrig, ebenso zerlumpt wie die Arbeitsmänner selbst; sein Alter war unmöglich zu schätzen. Auf seinen eingefallenen, vom Wind geröteten Wangen wuchsen farblose Bartstoppeln. Eine kleine ovale Narbe zeichnete seinen Unterkiefer. Er rieb mit dem Daumen über die Narbe, während er Andras nachdenklich betrachtete.
»In fünf Minuten kommt ein Waggon«, sagte er schließlich. »Wir nehmen dich mit.«
»Wohin fahren wir?«, wagte Andras wieder auf Deutsch zu fragen.
»Nach Österreich. In ein Arbeitslager. Dort ist ein Arzt, der dir helfen kann.«
Alles schien eine grausame zweite Bedeutung zu haben. Österreich. Arbeitslager. Ein Arzt, der ihm helfen konnte. Andras hielt sich mit einer Hand an Józsefs Arm fest, zog sich auf die nackten Füße und zwang sich, dem Mann in die Augen zu sehen. Der hielt seinem Blick stand, bis er sich abrupt abwandte und an den Güterwaggons vorbei davonmarschierte. Erschöpft lehnte sich Andras gegen József, bis der Waggon kam. Der Offizier lief im
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