Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Gürtel glänzten frisch poliert. Sie blieben vor dem Tor stehen, und ihr Hauptmann gab über die Lautsprecher eine Durchsage auf Russisch durch. Die Insassen waren auf diesen Moment vorbereitet. Sie hatten aus den Leinensäcken mit Zementstaub weiße Fahnen geschnitten und sie an schlanken Lindenzweigen befestigt. Eine Gruppe Russisch sprechender Gefangener aus einer slowakischen Grenzstadt ging mit hoch in die Luft gereckten Flaggen auf die Sowjets zu. Wie absurd das Ganze, dachte Andras – dass diese hageren, gramgebeugten Männer eine Kapitulationsflagge trugen, als ob man sie mit ihren Häschern verwechseln könnte. Die Sowjets hatten eine Wagenladung grobes Schwarzbrot mitgebracht, das sie unter den Männern verteilten. Sie brachen die Schlösser der Lagerhäuser auf, aus denen sich die Lageroffiziere versorgt hatten; nachdem die Russen so viel herausgeholt hatten, wie ihr Handkarren tragen konnten, gaben sie den Gefangenen Zeichen, sich zu nehmen, was sie wollten. Die Männer gingen durch das Lagerhaus wie durch das Museum eines vergangenen Zeitalters. In den Regalen standen Luxusgüter, die sie seit Monaten nicht mehr zu Gesicht bekommen hatten: Wurst in Dosen, Birnen und Erbsen in Einmachgläsern, schlanke Zigarettenschachteln, stapelweise Batterien und Seiferiegel. Sie packten die Vorräte in viereckige Leinentücher oder leere Zementsäcke in der Hoffnung, sie auf dem Heimweg verkaufen oder tauschen zu können. Dann brachten die Sowjets die Männer zu einem Zwischenlager dreißig Kilometer weiter an der ungarischen Grenze, wo sie drei Wochen lang in dreckigen, übervölkerten Baracken hausten, bis sie ihre Entlassungspapiere erhielten und gehen durften. Sie waren zweihundertfünfzehn Kilometer von Budapest entfernt. Die einzige Möglichkeit, dorthin zu gelangen, war zu Fuß.
Sie trauten niemandem, marschierten nachts, wichen den letzten versprengten SS -Verbänden aus, die jeden Juden erschießen würden, der ihnen über den Weg lief, aber ebenso den sowjetischen Befreiern, die, so erzählte man sich, jedem den Entlassungsschein abnehmen und ihn ohne Angabe von Gründen ins Arbeitslager nach Sibirien schicken konnten. Wegen Józsefs schlecht verheilten Beins kamen sie nur langsam voran; er schaffte höchstens zehn Kilometer, dann konnte er vor Schmerz nicht mehr weitergehen. Aus der Hauptstadt trieben Schilderungen von Gräueln über die wogenden Hügel von Transdanubien: Budapest in Schutt und Asche gebombt. Hunderttausende deportiert. Ein Hungerwinter. Der Teil von Andras’ Kopf, der daran gewöhnt war, an Klara zu denken, war zu einem starren Knoten geschrumpft; ein Narbengewebe. Er gestattete sich nicht, über die Notwendigkeiten des Augenblicks hinaus irgendetwas zu denken; er konzentrierte sich auf sein eigenes Überleben. Andras erlaubte sich nicht, an die ersten Wochen des Jahres zurückzudenken, an den graublauen Schleier des Schreckens vom Januar 1945. Die Operationswunde in seiner Seite war zu einer runzligen rosa Narbe geworden; die verletzte Milz und der abgerissene Darm hatten ihre unsichtbare Tätigkeit wieder aufgenommen. Er wollte nicht an seine Eltern, nicht an Mátyás denken; wollte nicht an Tibor denken, der irgendwo hinter der österreichischen Grenze verschwunden war. Mit József an seiner Seite schlief er in Scheunenruinen oder grub sich in Heuschober ein und bettete sich in das süßlich duftende Dunkel, um aus dem Albtraum hochzuschrecken, lebendig begraben zu werden. Nachts marschierten sie durch das dichte Gestrüpp entlang der Hauptstraße, die nach Budapest führte. Als sie eines Abends an der Hintertür eines großen Herrenhauses klopften, um deutsche Zigaretten und Batterien gegen Eier und Brot zu tauschen, erfuhren sie von der Köchin, dass russische Panzer in Berlin eingetroffen seien. Sie zeigte ihnen, wo sie sich in einem Fliederbusch neben einem offenen Fenster verbergen und der abendlichen Rundfunkübertragung lauschen konnten. Inmitten der Fliederbüschel hörten sie einen BBC -Sprecher schildern, was sich in der deutschen Hauptstadt abspielte. Für Andras waren die englischen Worte ein Labyrinth aus scharfen Vokalen und Schnellfeuerkonsonanten, doch József beherrschte die Sprache. Die Russen, übersetzte er, hätten den Reichstag umstellt, wo Hitler offenbar seine letzte Vorstellung geben wollte; niemand wusste, was hinter den Mauern vor sich ging.
An einem Morgen nur wenige Tage später – sie hatten in einem Bootshaus am Plattensee unter einem verschimmelten
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