Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
unterscheiden. Und vielleicht waren Freude und Trauer in dem Augenblick dasselbe, eine Flut, die ihre Brust erfüllte und ihre Kehle öffnete: Dies habe ich ohne dich überlebt, dies haben wir verloren, dies ist noch übrig, damit müssen wir jetzt leben. Der Säugling erhob seine hohe, feuchte Stimme. Sie waren zusammen, Klara, Andras, Tamás und das kleine Mädchen, dessen Name sein Vater nicht kannte.
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41.
Die Toten
KLARA HATTE DIE BELAGERUNG von Budapest in einem Frauenschutzhaus unter dem Schutz des Internationalen Roten Kreuzes am Szabadság tér überlebt. Die Allierten verschonten es mit Bomben; die Deutschen hatten nur wenig Interesse daran. Die Bewohner, junge Mütter und Kleinkinder, waren für sie von keinerlei Nutzen. Klara war Anfang Dezember in die Unterkunft gezogen, wenige Wochen nachdem die Russen die Südostgrenze der Stadt erreicht hatten. Horthy war mittlerweile abgesetzt, die Pfeilkreuzler waren an die Macht gekommen, und siebzigtausend Juden waren aus Budapest deportiert worden. Wer der Deportation entkommen war, hatte zweimal umziehen müssen: zuerst vom eigenen Heim in Häuser mit gelbem Stern, für Juden vorbehaltene Wohnungen im gesamten Stadtgebiet; und dann ein zweites Mal in ein winziges Ghetto im siebten Bezirk, in den Straßen rund um die Große Synagoge.
Im Zuge der ersten Umsiedlungswelle wurden Klara und Ilana, die Kinder, Klaras Mutter und Elza Hász einem Gebäude auf der Balzac utca im sechsten Bezirk zugewiesen. Polaner war mit ihnen gegangen. Die zierliche Frau Klein, die Großmutter von Miklós Klein, hatte ihnen ihren Ziegenkarren zur Verfügung gestellt, um ihr Hab und Gut zu transportieren. Klara hatte Kleins Großmutter bei einem letzten verzweifelten Besuch ins Gefängnis auf der Margit körút begleitet, wo auch György angeblich untergebracht war; Frau Klein hatte sich dort nach Miklós erkundigt. An jenem Tag gab es keine Neuigkeiten über die beiden Männer, doch als die Frauen anschließend zusammen am Donauufer entlanggegangen waren und versuchten, sich gegenseitig von ihrer Trauer und Angst abzulenken, hatten sie sich über die praktischen Schwierigkeiten des bevorstehenden Umzugs ausgetauscht. An dem Tag, als sie an der Nefelejcs utca ausziehen wollten, war Klara von einem frühmorgendlichen Klopfen an der Tür geweckt worden: Davor stand Miklós Kleins Großmutter in ihrem Bauernrock und den schwarzen Stiefeln und verkündete, dass ihr Ziegenkarren unten im Hof bereitstünde. Klara hatte über die Balkonbrüstung geschaut, und tatsächlich wartete das Wägelchen neben dem Brunnen, und zwei weiße Ziegen beschnüffelten das Wasser. Der Großmutter von Miklós Klein, so stellte sich bald heraus, war ein Haus unweit dem von Klara zugewiesen worden, und sie hatte bereits die Dinge hingebracht, die sie und ihr Mann aus dem kleinen Häuschen in Angyalföld hatten retten können. Sieben Ziegen hatten das Paar ins Stadtzentrum begleitet: die beiden Böcke, zwei Milchziegen und drei Zicklein. Klara könne sie sich selbst am Nachmittag ansehen, sagte Kleins Großmutter; sie hätte die Ziegen in einer Remise hinter einem Haus mit gelbem Stern auf der Csanády utca versteckt.
Trotz des hilfreichen Ziegenkarrens hatten sie so gut wie alles zurücklassen müssen. Sie zogen in einen Raum in einer Vierzimmerwohnung, die nur über ein Bad verfügte; zwei andere Familien würden die übrigen Räume nutzen. Klara und Ilana, die Kinder, die ältere und die jüngere Frau Hász, dazu Polaner mit seiner geladenen Waffe – diese sieben hatten zu Fuß die Stadt durchquert, inmitten von Tausenden jüdischer Männer, Frauen und Kinder, die ihre Besitztümer in Schubkarren transportierten, sie auf dem Rücken trugen oder von Pferden ziehen ließen. Für die zwei Kilometer lange Strecke brauchten sie vier Stunden. Als sie ihre Sachen hinauftrugen, mussten sie feststellen, dass ihr Zimmer bereits von einer anderen Familie in Beschlag genommen war; da niemand wusste, wo sie sonst hingehen sollten, beschlossen sie, sich den Raum zu teilen. Und so begannen fünf Monate in der Wohnung auf der Balzac utca. Schon bald hatte Klara das Gefühl, als hätte sie immer auf einem Lager zwischen ihrer Mutter und ihrem Kind auf dem Boden geschlafen, als hätte sie sich immer ein Bad mit sechzehn Personen geteilt, sei immer vom Weinen ihrer Schwägerin geweckt worden. Miklós Kleins Großmutter kam regelmäßig mit Ziegenmilch für die Kinder und Klara und mahnte sie, ihre Kräfte für
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