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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Krankenhaus für verwundete Pfeilkreuzler einzurichten, hatte er jüdische Ärzte mit ihren Familien zu sich geholt und einen Vorrat an Lebensmitteln und Medikamenten angelegt. Nun behandelten die Ärzte in jenen engen Wohnungen, die zu einem Hospital geworden waren, die geschundenen Opfer der Belagerung. Polaner brachte kranke Frauen und Kinder aus dem Rote-Kreuz-Wohnheim ins Krankenhaus und holte sie wieder ab, wenn es ihnen besser ging. Für die Behandlung gab er den Ärzten für deren Kinder die restliche Ziegenmilch, die man im Schutzhaus des Roten Kreuzes entbehren konnte.
    In der ganzen Stadt litten die Menschen zunehmend an Hunger. In den ersten Dezemberwochen war das Rote Kreuz noch mit Suppe versorgt worden, die auf einem Karren von einer Küche auf der gegenüberliegenden Seite des Szabadság tér herübergeholt werden musste. Als es keine Suppe mehr gab, bekamen die Bewohner Saubohnen und Kartoffeln in ihrem eigenen Kochwasser; dann nur noch Bohnen und schließlich nichts mehr außer dem, was die selbst mangelernährten Ziegen spendeten. Die Frauen aus dem Wohnheim trugen ihre Wertsachen zusammen und gaben sie Polaner, damit er sie gegen Essen eintauschte; Klara ließ die Ringe ihrer Mutter zu dem übrigen Schmuck in den Beutel fallen. Doch Polaner kehrte mit leeren Händen zurück. Der Schmuck der Frauen war nichts mehr wert. Es gab nirgends mehr etwas zu essen. Selbst das spärlich fließende Trinkwasser war versiegt; Wasser bekamen sie jetzt nur noch aus geschmolzenem Schnee, den sie aus dem Hof hereinholten. Den Frauen wurde schlecht vor Hunger und Durst, im Schutzhaus gab es immer weniger Milch. Zuerst schrien die Kinder, doch Anfang Januar waren sie zu schwach geworden, um zu protestieren. Eines nach dem anderen verstummte, ihr Atem wurde zu einem schwachen Flügelschlagen unter ihrem Brustbein. Da tat Polaner das, was Kleins Großmutter ihm für den Fall aufgetragen hatte, dass die Not zu groß wurde. Der sanfte Sohn eines Textilfabrikanten, der taubengleiche junge Mann, der im Umgang mit Zeichenstift und Winkelmesser geübt war, tötete die Ziegen und Zicklein mit seiner Walther P 38 und gab sie dann an eine der Bewohnerinnen weiter, eine Frau, deren Mann Schlachter gewesen war und die wusste, was sie mit Polaners Messer zu tun hatte.
    Eine Woche später, am achten Januar, setzten bei Klara die Wehen ein. Ilana bestand darauf, dass sie ins Krankenhaus auf der Zichy Jenő utca ging; nach zwei Kaiserschnitten könne sie es nicht riskieren, im Wohnheim zu entbinden. Ilana selbst würde auf Tamás aufpassen. Sie gab Klara einen Kuss und versicherte ihr, dass alles gut gehen würde. Dann kämpften sich Klara und Polaner durch ein Geflecht aus qualmverdüsterten Gassen zu Ara Jerezians Krankenhaus. Da die Kampfhandlungen immer näher kamen, waren die Gänge des Hospitals mit schwerstverwundeten Soldaten verstopft; Männer lagen auf Betten entlang der Wand, weinten, schwitzten, keuchten, der Boden war glitschig vor Blut. Die Ärzte konnten ihre Arbeit nicht unterbrechen, um sich um eine gesunde Frau in den Wehen zu kümmern, egal welche Vorgeschichte sie hatte. Klara und Polaner warteten drei Stunden in einer provisorischen Küche, bis mehrere Wehen Klara auf alle viere sinken ließen. Schließlich flehte Polaner Ara Jerezian selbst um Hilfe an, der Klara mit in sein Büro nahm und für sie ein Lager auf dem Fußboden bereitete. Polaner brachte Wasser, tupfte Klaras Stirn trocken und wechselte die schweißdurchtränkten Laken. Als klar wurde, dass das Kind eine Steißlage war und Klara es nicht ohne Kaiserschnitt würde zur Welt bringen können, führte Dr. Jerezian Klara in einen provisorisch eingerichteten OP -Saal – drei Metalltische, einzig beleuchtet durch eine Reihe hoher Fenster – und betäubte sie mit Morphium, während der standfeste Polaner den Blick abwandte. Als Klara wieder erwachte, erfuhr sie, dass sie ein Mädchen bekommen hatte. Sie nannte es Április in der Hoffnung, dass es den Frühling erleben würde. Und Polaner stellte fest, dass die Kleine ihrem Vater ähnelte.
    Fünf Tage lang erholte sich Klara in Jerezians Büro. Polaner brachte ihr alles, was er an Essbarem im Krankenhaus auftreiben konnte. Er versorgte ihre Wunde, kühlte ihre Stirn mit feuchten Tüchern, hielt das Baby, wenn Klara schlief. Das Mädchen, winzig bei der Geburt, nahm durch Klaras Milch an Gewicht zu. Als sie die Kleine schließlich in das Schutzhaus des Roten Kreuzes brachten, fanden sie Tamás stumm und

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