Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
sentimental«, hatte ihre Mutter gesagt und Klara ruhig und fest in die Augen geschaut. »Tausch die Ringe gegen Brot, wenn du musst.« Sie hatte darauf bestanden, dass Klara sich die Ringe an die Finger steckte, und ihr einen knappen Kuss wie damals gegeben, wenn Klara morgens zur Schule aufbrach, dann war sie ins Haus gegangen, um das wenige einzupacken, das sie ins Getto mitnehmen durfte.
Polaner hatte angeboten, Klara und Ilana die vierzehn Straßenblöcke zu begleiten, die sie zu Fuß zum Schutzhaus gehen mussten. In der Tasche trug er die Walther P 38 von dem Offizier, der seine sichere Reise nach Ungarn organisiert hatte, und auf dem Arm trug er Tamás, der sich im Laufe der chaotischen letzten Monate stark an Polaner gewöhnt hatte. Auf der Türschwelle des Roten Kreuzes auf der Perczel Mór utca gebärdete Tamás sich angesichts Polaners Abschied derart wild, dass die Schutzhausleiterin Polaner anbot, über Nacht zu bleiben, um den Frauen und Kindern bei der Eingewöhnung zu helfen. Die Leiterin war die Mutter eines kleinen Mädchens, das einige Jahre zuvor von Klara unterrichtet worden war; eine ihrer Lieblingsschülerinnen. Wie Klara erfuhr, war das Mädchen inzwischen an Scharlach gestorben, doch die Mutter wollte alles in ihrer Macht Stehende tun, um der Ballettlehrerin zu helfen. Aus Dank für ihre Freundlichkeit erklärte Polaner der Leiterin, dass er den Frauen und Kindern im Schutzhaus durch seine falschen Papiere und den Mitgliedsausweis der NSDAP eventuell behilflich sein könne; zumindest so lange, bis die Russen kämen, hätte er in der Stadt eine gewisse Bewegungsfreiheit. Bis zum Morgen hatte Polaner eine Liste all der Dinge erstellt, die die Bewohnerinnen brauchten. Milch für die Kinder stand an oberster Stelle. Deshalb war das Erste, was er dem Wohnheim brachte, ein halbes Dutzend Ziegen: die Böcke, die Geißen und zwei der drei Zicklein, die in der Remise hinter dem Haus mit dem gelben Stern auf der Csanády utca untergebracht gewesen waren. Kleins Großmutter hatte sie am Morgen Polaners Obhut anvertraut, als sie und ihr Mann zum Getto im siebten Bezirk aufgebrochen waren und nur das letzte Zicklein mitgenommen hatten.
Die Schutzunterkunft des Roten Kreuzes befand sich im ersten Stock des Hauses in drei Zimmern, die früher einmal ein Versicherungsbüro beherbergt hatten. Mütter, die in Pelzmänteln und maßgefertigten Schuhen eingezogen waren, saßen nun auf Schreibtischstühlen oder auf dem Boden und stillten ihre Kinder neben anderen Frauen, die mit in Zeitungen gewickelten Füßen eingetroffen waren. Tag und Nacht erfüllten die Frauen das Wohnheim mit ihren eindringlichen Gesprächen, ihrem Weinen und hin und wieder mit verhaltenem Lachen. Sie beruhigten die Kinder mit Liedern, lenkten die Zwei- und Dreijährigen mit Fingerspielen und improvisiertem Spielzeug ab. Mit Steinchen gefüllte Pillenschachteln wurden zu Rasseln, schmutzige Lumpen zu bezopften Puppen. Abwechselnd wuschen die Mütter die Windeln der Kinder im Waschraum im Erdgeschoss, der einzige Ort mit fließendem Wasser. Als die Fensterscheiben bei einer Bombardierung zerbrachen und es im Haus so kalt wurde, dass die frisch gewaschenen Windeln gefroren, wickelten sie sich den Stoff nachts um den Körper und trockneten ihn mit ihrer Wärme. Zehnmal täglich, so schien es ihnen, hasteten sie in den Bunker unter dem Gebäude und kauerten sich dort zusammen, während die Bomben rund um den Szabadság tér niedergingen.
Polaner war unermüdlich für die Frauen und Kinder unterwegs. Er besorgte Lumpen für Windeln, er stahl die Winterkleidung der Frauen aus den Wohnungen zurück, die sie hatten verlassen müssen. Nachts missachtete er die stadtweite Ausgangssperre und klaubte Futter für die Ziegen aus verlassenen Ställen und aus dem Müll, der sich in den Straßen zu sammeln begann. Auf seinen Streifzügen durch das Viertel entdeckte Polaner das geheime jüdische Krankenhaus auf der Zichy Jenő utca, wenige Straßenecken vom Wohnheim entfernt, wo ein armenischer Arzt namens Ara Jerezian vierzig jüdische Ärzte mit ihren Familien versammelt hatte. Die Flagge der Pfeilkreuzler wehte über dem Eingang, und Jerezian trug die offizielle Nyilas-Uniform. Vor Jahren hatte er seine Mitgliedschaft in der Partei als Protest gegen die antijüdische Politik der Pfeilkreuzler aufgegeben, war ihr aber dann wieder beigetreten, als ihm klar wurde, was er in der Partei heimlich für die Juden tun könnte. Unter dem Vorwand, ein
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