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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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mit glasigem Blick in den Armen der Leiterin vor. Wo war Ilana, wollten sie wissen. Wo war die Tante des Jungen, die sich um ihn hatte kümmern wollen? Die Leiterin schaute sie eine Weile schweigend und mit bebenden Lippen an, dann erzählte sie ihnen, was geschehen war.
    Ádám Lévi war am zwölften Januar an einem Fieber gestorben. Im Wahn ihres Kummers war seine Mutter nach draußen auf die Straße gelaufen, wo sie von einer russischen Granate getötet worden war.
    Noch sechs Tage lang zogen sich die Kämpfe in Pest hin. Die russischen Truppen näherten sich dem Stadtzentrum, schienen es auf den Szabadság tér selbst abgesehen zu haben; Artilleriebeschuss erschütterte das Gebäude Tag und Nacht. Klara kauerte sich in einem Schockzustand aus Trauer und Angst mit dem Säugling in den Bunker, während Tamás sich an Polaner klammerte. Sie würde sterben, ohne ihren Mann noch einmal zu sehen; wenn er überlebte, wie würde er dann von ihrem Tod, vom Tod ihrer gemeinsamen Kinder erfahren? Möglicherweise würde er niemals erfahren, dass er eine Tochter gehabt hatte. Wie schade, dass sie keine Zukunft hat. Was für eine Zukunft konnte man sich nach so etwas noch vorstellen? Als Polaner sich in der Nacht hinauswagte, um Wasser aus einem Standrohr an der anderen Straßenseite zu holen, kehrte er mit der Nachricht zurück, dass der Nyugati-Bahnhof in Brand stand und die ungarischen Soldaten in Richtung der Donaubrücken flohen. Das infernalische Glühen entlang der Donau stamme von den brennenden Grand Hotels. Flammen züngelten an der Kuppel und den Türmen des Parlaments empor. Die Einwohner eilten mit ihren Hunden und Taschen und Kindern zum Fluss, doch die Brücken standen unter Beschuss. In der ganzen Stadt gab es nichts mehr zu essen. Klara nahm die letzte Nachricht in dem Bewusstsein auf, dass sie ihre Kinder sterben sehen würde. Später in der Nacht, übermannt von einem unruhigen, panischen Schlaf, träumte sie, ihre eigene rechte Hand an die Kinder zu verfüttern; sie spürte keinen Schmerz, nur Erleichterung, diese geniale Lösung gefunden zu haben.
    Als Klara am Morgen erwachte, herrschte ungewöhnliche Ruhe. Anstelle von Geschützfeuer eine nachhallende Stille. Hin und wieder durchschnitt eine Gewehrsalve die Morgenluft, und vom Westufer der Donau, wo die Kämpfe andauerten, tönte das schwache Echo von Schusswechseln herüber. Doch die Schlacht um Pest war vorbei. Alle Brücken waren zerstört; die Sowjets hatten die Stadt eingenommen. Die letzten Nazis in Pest waren Kriegsgefangene oder hockten in Gebäuden, wo sie zuvor andere hatten hocken lassen. Im Schutzhaus des Roten Kreuzes warteten die Frauen auf ein Zeichen, was sie tun sollten. Sie waren schwach vor Durst und Hunger, krank vor Kummer. Das Gebäude hatte zwar der Bombardierung standgehalten, aber in der Nacht waren zwei weitere Säuglinge gestorben. Die Kinder, die überlebt hatten, waren an diesem Tag ruhiger, so als wüssten sie, dass sich etwas geändert hatte. Am Nachmittag wagten sich die Bewohnerinnen in das blassgelbe Licht des Szabadság tér. Was sie sahen, erschien ihnen wie ein Bild aus einer Wochenschau oder einem Traum: Kühn wehte die amerikanische Flagge über der verschlossenen Botschaft. Zwei Pfeilkreuz-Soldaten lagen tot auf den Stufen, die Brust von Einschusslöchern zerfetzt. Zwei russische Militärpolizisten standen am Rande des Platzes und starrten auf die qualmende Kuppel des Parlamentsgebäudes. Die Schutzhausleiterin lief über den Platz zu den Russen und fiel vor ihnen auf die Knie; sie verstanden nichts von dem, was sie sagte, aber boten ihr ihre Feldflasche an.
    Als am nächsten Morgen keine Hilfe von den Russen zu sehen war, machten sich die Bewohnerinnen des Schutzhauses auf den Weg. Klara und Polaner schlugen die Kinderwagen mit zusätzlichen Decken aus und packten die Überreste der Dinge, die sie mitgebracht hatten, zusammen. In Ádáms leeren Wagen legten sie Tamás, der in der letzten Woche keine andere Nahrung bekommen hatte als Klaras schwach tröpfelnde Milch. In den anderen Wagen legten sie den Säugling. Klara konnte kaum gehen, blind vor Erschöpfung. Sie suchten sich ihren Weg durch den Schutt der Stadt, ohne zu wissen, wohin sie liefen; mit den Kinderwagen wichen sie abgestürzten Flugzeugen, Pferdekadavern, explodierten deutschen Panzern, herabgestürzten Schornsteinen, Trümmerbergen, toten Soldaten und toten Frauen aus. An der Ecke von Király und Kzinczy utca stießen sie auf eine Gruppe russischer

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