Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
einstürzte.
Als er am Samstagnachmittag im Theater eintraf, war das einzige Mysterium in seinem Kopf, wie er es geschafft hatte, am letzten Tag vor der Einladung sein einziges weißes Hemd nicht in die Reinigung gegeben und keinen einzigen Franc für ein Geschenk an seine Gastgeberin zur Seite gelegt zu haben. Nachdem er Madame Gérard das Problem mit seiner Kleidung gestanden hatte, fand er sich in der Werkstatt der Gewandmeisterin wieder, Madame Courbet, die die gesamte Arbeiterbekleidung und alle Armeeuniformen für Die Mutter gefertigt hatte. Während es auf der Bühne zur Revolution kam, widmete Madame Courbet ihre Aufmerksamkeit einer anderen Schlacht: Sie nähte fünfzig Tutus für eine Kindertanzaufführung, die im Winter im Bernhardt stattfinden würde. Andras entdeckte die Schneiderin inmitten einer Wolke aus weißem Tüll und winzigen Seidenblümchen, ihre Nähmaschine donnerte mechanisch inmitten dieses Schneesturms. Madame Courbet war eine spatzenähnliche Frau von über fünfzig, immer in tadelloser Kleidung; heute war ihr grünes Wollkleid mit eisig wirkenden Fasern überzogen, und sie hielt eine Rolle silbrig weißen Fadens in den Händen. Sie nahm ihre randlose Brille ab und schaute Andras an.
»Ah, der junge Monsieur Lévi«, sagte sie. »Gibt es wieder eine Beschwerde von Monsieur Claudel, oder ist jemandem eine Naht gerissen?« Sie verzog den Mund zu einer schiefen Grimasse.
»Genau genommen geht es um mich«, sagte er. »Ich brauche leider ein Hemd.«
»Ein Hemd? Treten Sie jetzt auch in dem Stück auf?«
»Nein«, sagte Andras und errötete. »Ich brauche ein Hemd für ein Mittagessen morgen.«
»Aha.« Die Schneiderin legte den Faden beiseite und verschränkte die Arme. »Das ist nicht mein Fachgebiet.«
»Ich störe Sie nur ungern, wo Sie bereits so viel zu tun haben«, sagte er.
»Madame Gérard hat Sie geschickt, nicht wahr?«
Andras nickte.
»Diese Frau«, schimpfte Madame Courbet. Doch sie erhob sich von ihrem kleinen Stuhl und stellte sich vor Andras, musterte ihn von oben bis unten. »Das würde ich nicht für jeden tun«, sagte sie. »Aber Sie sind ein guter junger Mann. Sie werden hier zu Tode gehetzt und bekommen so gut wie nichts dafür, aber Sie waren noch nie unhöflich zu mir. Was mehr ist, als ich von gewissen anderen Personen behaupten kann.« Sie nahm ein Maßband vom Tisch und schnallte sich ein Nadelkissen ums Handgelenk. »So, ein Herrenhemd, nicht wahr? Sie brauchen natürlich ein schlichtes weißes Oxfordhemd. Nichts Ausgefallenes.« Mit wenigen geschickten Griffen maß sie Andras’ Halsumfang, die Schultern und die Länge seiner Arme, dann ging sie zu einem Kleiderschrank mit der Aufschrift CHEMISES . Daraus zog sie ein schickes weißes Hemd mit einem gestärkten Kragen hervor. Sie zeigte Andras, dass es eine Geheimtasche für eine Tube Theaterblut hatte; es gab ein Stück, in dem ein Mann Abend für Abend vom eifersüchtigen Liebhaber seiner Frau erstochen wurde, und Madame Courbet hatte einen enormen Vorrat an Hemden anfertigen müssen. Aus einer Schublade mit der Aufschrift CRVT wählte sie eine blaue Seidenkrawatte mit einem Rebhuhnmuster. »Das ist eine Aristokratenkrawatte«, sagte sie, »die Krawatte eines reichen Mannes, gezaubert aus Lumpen. Sehen Sie!« Madame Courbet drehte den Binder um und zeigte Andras, wie sie den Seidenrest auf einen schlichten Baumwollrücken genäht hatte. Andras band sie sich um, und die Gewandmeisterin steckte das Hemd für eine rasche Änderung ab. Am Ende des Abends reichte sie ihm das fertige Stück, eingeschlagen in braunes Papier. »Erzählen Sie niemandem, woher Sie das haben«, sagte sie. »Ich möchte nicht, dass sich das rumspricht.« Doch als sie ihn fortschickte, zwickte sie ihm liebevoll ins Ohr.
Als Andras gehen wollte, hatte er plötzlich eine Eingebung. Er lief zum prächtigen Haupteingang des Theaters, wo Pély, der Hausmeister, den Marmorboden mit dem Besen fegte. Wie immer hatte Pély den Blumenschmuck der vergangenen Woche hinter den Eingangstüren aufgereiht; am nächsten Morgen würde er vom Floristen abgeholt, zusammen mit den Vasen, und durch neuen ersetzt werden. Andras grüßte Pély mit einem Tippen an die Mütze.
»Wenn keiner diese Blumen haben will«, sagte er, »darf ich sie dann mitnehmen?«
»Na, sicher! Nehmen Sie sie mit! So viel Sie wollen.«
Andras häufte sich die Arme voller Rosen, Lilien und Chrysanthemen, Zweige mit roten Beeren, künstlichen Drosseln auf grünen Zweigen, fedrigen
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