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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Wie der Tag dadurch zu einem gewöhnlichen Nachmittag wurde. Was auch immer er gewesen war, gewöhnlich war er nicht. Was sollte Andras nur schreiben? Er wollte seine Dankbarkeit für Madame Morgensterns Gastfreundschaft ausdrücken, so viel stand fest. Doch darüber hinaus wollte er ihr eine verschlüsselte Nachricht senden, ihr mitteilen, was er gefühlt hatte und was er jetzt fühlte – diese sonderbare elektrische Spannung, die zwischen ihnen entstanden war und sie noch immer verband; er wollte schreiben, dass er sie beim Wort nehmen wolle – ihr Angebot, dass sie sich wiedersehen könnten. Er strich die geschriebenen Zeilen durch und begann von Neuem.
Liebe Madame Morgenstern,
so absurd es auch klingt, ich habe seit unserem Abschied nur an Sie gedacht. Ich möchte Sie in die Arme nehmen, Ihnen tausend Dinge sagen und Sie tausend Dinge fragen. Ich möchte Ihren Hals berühren und den Perlenknopf in Ihrem Nacken lösen.
    Und was dann? Was würde er tun, wenn er die Möglichkeit dazu hätte? Für einen kurzen wirren Augenblick dachte er an jene verblichenen Fotografien mit den Abbildungen ausgefallener sexueller Stellungen, an den silbernen Schimmer verschlungener Paare, die man nur sehen konnte, wenn die Karten in einem gewissen Winkel zum Licht gehalten wurden. Er dachte daran, wie er mit vier anderen Jungen in der Umkleidekabine der Sporthalle gestanden hatte, alle vorgebeugt mit einer Karte in der Hand, die Turnhose um die Knöchel, jeder in seiner einsamen Qual, während die silbrigen Pärchen abwechselnd sichtbar wurden und wieder verschwanden. Auf Andras’ Karte war eine Frau zu sehen gewesen, die auf einem Sofa lag, die Beine zu einem spitzen V emporgespreizt. Sie trug ein viktorianisches Kleid, das Arme und Schultern entblößte und ihr völlig von den Beinen gerutscht war, sodass sie nackt der Decke entgegenstrebten. Ein Mann beugte sich über sie und tat, was selbst die Viktorianer taten.
    Rot vor Scham und Begierde strich Andras seine Zeilen erneut durch und begann mit dem nächsten Entwurf. Er tauchte seinen Füllhalter ins Fass und wischte die überflüssige Tinte ab.
Liebe Madame Morgenstern,
vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft und Ihre angenehme Gesellschaft. Meine eigene Unterkunft ist zu armselig, als dass ich mich mit einer Einladung revanchieren könnte, aber vielleicht kann ich Ihnen ja auf andere Weise zu Diensten sein. Wenn ja, dann hoffe ich, dass Sie nicht zögern werden, auf mich zurückzugreifen. Bis dahin hege ich die Hoffnung, dass wir uns wiedersehen.
Mit freundlichen Grüßen,
Andras Lévi
    Immer wieder las er den Entwurf durch, fragte sich, ob er statt auf Ungarisch versuchen sollte, französisch zu schreiben, und kam zu dem Schluss, dass er auf Französisch womöglich einen trotteligen Fehler machen könnte. Er schrieb den Brief noch einmal ab auf ein Blatt dünnes weißes Papier, das er in der Mitte faltete und schnell in einem Umschlag verklebte, bevor er damit beginnen konnte, jede einzelne Zeile zu hinterfragen. Dann warf er das Schreiben in denselben Briefkasten, in den er den Brief von Madame Morgensterns Mutter gesteckt hatte.
    In jener Woche war er dankbar für die anspruchsvolle, Gewissenhaftigkeit fordernde Arbeit des Modellbaus. Im Atelier schnitt er ein Rechteck aus schwerem Karton, das als Fundament für sein Modell dienen sollte, und zeichnete die Grundfläche des Gebäudes mit dünnem Bleistiftstrich darauf. Auf ein anderes Stück Karton zog er die Konturen der vier Seitenansichten nach, wobei er sich sorgfältig an seine maßstabsgerechten Pläne hielt. Sein Lieblingsutensil war ein Lineal aus fast durchsichtigem Kunststoff, das den Blick auf die Bleistiftlinien freigab; mit seinem strengen Millimeterraster war es eine Insel der Genauigkeit im Meer der Aufgaben, die er zu bewältigen hatte, ein Stück Sicherheit inmitten seiner Unsicherheit. Das Modell musste aus stabilem Material gefertigt werden, das nicht irgendwo im Dutzend billiger zu kaufen war oder durch etwas Leichteres ersetzt werden konnte; alle hatten noch im Kopf, was in der ersten Unterrichtswoche geschehen war, als Polaner seinen schwindenden Bestand an Francs hatte schonen wollen und deshalb für ein Modell Zeichenpapier statt Karton benutzt hatte. Als Professor Vago mitten in der Besprechung mit seinem Druckbleistift auf das Dach von Polaners Modell tippte, war eine Wand eingeknickt und hatte das Papierschloss auf die Knie sinken lassen. Zeichenkarton war teuer; Andras konnte es sich nicht

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