Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
leisten, einen Fehler zu machen, weder beim Zeichnen noch beim Schneiden. Es war ein gewisser Trost, neben Rosen, Ben Yakov und Polaner zu arbeiten, die die École Militaire, die Rotonde de la Villette und das Théâtre de l’Odéon bauten. Sogar der selbstgefällige Lemarque sorgte für willkommene Ablenkung; er hatte sich für ein Modell des Cirque d’Hiver entschieden, ein zwanzigseitiges Polygon, und man hörte ihn regelmäßig fluchen, während er Mauer um Mauer auf den Karton zeichnete.
Im Statikunterricht herrschte die schlichte, klare Ordnung der Mathematik: Dreisatz-Gleichungen zur Berechnung der Menge und des Umfangs von Eisenstangen pro Kubikmeter Beton, des Gewichts, das eine stützende Säule tragen konnte, der genauen Verteilung des Drucks am Scheitelpunkt eines Bogens. Vorne im Raum stand der schrecklich ungepflegte Victor Le Bourgeois, Professor für Statik, praktizierender Architekt und Ingenieur, der angeblich wie Vago ein enger Freund von Pingusson war, und arbeitete sich mit Kreide durch ein Labyrinth von Gleichungen auf der am Rand lädierten Tafel. Le Bourgeois’ chaotische Seite manifestierte sich in Hosen, die am Knie zerrissen waren, in einer Jacke, die immer grau vor Kreidestaub war, in einem struppigen Heiligenschein roter Haare und seiner Neigung, den Tafelschwamm zu verlegen. Doch wenn er begann, dem Verhältnis zwischen mathematischer Abstraktion und konkreten Baumaterialien nachzuspüren, schien die ganze Unordnung seines Wesens von ihm abzufallen. Bereitwillig folgte Andras ihm in die kurvigen Hallen der höheren Analysis, wo das Problem von Madame Morgenstern nicht existieren konnte, weil es nicht mit einer Gleichung zu beschreiben war.
Im Theater war es eine Erleichterung für Andras, wenn er ihren Namen laut gegenüber Madame Gérard aussprechen konnte. In der Pause während der Aufführung am Dienstagabend brachte er ihr eine Tasse starken Kaffee und wartete in der Garderobentür, während sie ihn trank. Sie schaute unter ihren elegant geschwungenen Brauen auf; selbst in der rußgeschwärzten Schürze und dem Kopftuch der Mutter war sie noch imposant. »Ich habe bisher nichts von Madame Morgenstern gehört«, sagte sie. »Wie war denn das Mittagessen?«
»Ziemlich wohltätig«, sagte Andras und errötete. »Wohltuend, meine ich.«
»So, so – wohltuend, meint er.«
»Ja«, sagte Andras. »Ziemlich.« Sein französischer Wortschatz schien auf ein Minimum geschrumpft.
»Aha«, machte Madame Gérard, als würde sie voll und ganz verstehen. Andras’ Wangen begannen zu glühen: Er wusste, dass sie annahm, zwischen ihm und Elisabet sei etwas vorgefallen. War es ja auch, nur nicht das, was sie sich ausmalte.
»Madame Morgenstern ist sehr nett«, sagte er.
»Und Mademoiselle?«
»Mademoiselle ist sehr …«, Andras schluckte und blickte auf die Lampenreihe über Madame Gérards Spiegel. »Mademoiselle ist sehr groß.«
Madame Gérard warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Sehr groß!«, sagte sie. »Ja, das stimmt. Und sie hat einen starken Willen. Ich kannte sie schon, da war sie noch ein kleines Mädchen und spielte mit Puppen; sie hat immer so gebieterisch mit ihnen gesprochen, dass ich fürchtete, die Puppen würden in Tränen ausbrechen. Aber Sie brauchen keine Angst vor Elisabet zu haben. Sie ist harmlos, das kann ich Ihnen versichern.«
Bevor Andras widersprechen konnte, er habe nicht im Geringsten Angst vor Elisabet, läutete die Glocke zweimal, um das bevorstehende Ende der Pause anzukündigen. Madame musste noch ihr Kostüm wechseln, und Andras musste los und seine Aufgaben erledigen, bevor der dritte Akt begann. Sobald die Schauspieler wieder auf der Bühne standen, tröpfelte die Zeit nur noch langsam dahin. Andras konnte an nichts anderes denken als an den Brief, den er geschrieben hatte, und wann er eine Antwort erhalten mochte. Er konnte mit der Post am Nachmittag zugestellt worden sein, sie könnte ihre Erwiderung schon heute abgeschickt haben. Ihre Antwort könnte morgen bei ihm eintreffen. Dass sie ihn am Wochenende erneut zum Essen einladen würde, war eine durchaus berechtigte Annahme.
Als die Vorstellung am nächsten Abend vorbei war und Andras seine Pflichten erledigt hatte, rannte er den Weg nach Hause zur Rue des Écoles. In Gedanken sah er den Umschlag im Dunkel des Eingangs leuchten, das cremefarbene Briefpapier, Madame Morgensterns ordentliche, gleichmäßige Schrift, dieselbe Schrift, mit der sie die Ansichtskarten in ihrem Album kommentiert
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