Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
bist, Mátyáska, aber Deine Wut ehrt Dich auch: Sie beweist, was für ein guter Sohn Du bist. Wenn ich mit dem Studium fertig bin, werde ich nach Ungarn zurückkehren, und möge Gott Anya und Apa lange genug bei guter Gesundheit erhalten, dass ich mich dann um sie kümmern kann. Bis dahin würde er sich genauso um sie sorgen wie seine Brüder. Bis dahin erwarte ich von Dir, dass Du in jeder Hinsicht überragend und furchtlos bist, wie immer! In Liebe, Dein Andras .
Er warf die Antwort am nächsten Morgen in den Briefkasten und hoffte, der Tag würde Nachricht von Madame Morgenstern bringen. Aber als er am Abend von der Arbeit heimkehrte, lag kein Brief auf dem Tisch im Flur. Warum sollte er auch damit rechnen, dass sie ihm zurückschrieb, fragte er sich. Ihr gesellschaftlicher Austausch war abgeschlossen. Er hatte Madame Morgensterns Gastfreundschaft genossen und sich dafür bedankt. Wenn er sich eine gewisse Nähe zu ihr einbildete, dann hatte er sich eben getäuscht. Man hatte sowieso von ihm erwartet, dass er eine Verbindung zu ihrer Tochter knüpfte, nicht zu Madame Morgenstern selbst. In der Nacht lag er frierend wach, dachte an sie und verfluchte sich selbst für seine alberne Hoffnung. Am Morgen entdeckte er eine dünne Eisschicht in seinem Waschbecken; er zerbrach sie mit dem Waschlappen und spritzte sich einen brennenden Schwung eiskalten Wassers ins Gesicht. Draußen wehte ein kräftiger Wind, riss lockere Schindeln von den Dächern und zerschmetterte sie auf der Straße. In der Bäckerei gab ihm die Verkäuferin heißes Bauernbrot direkt aus dem Ofen und berechnete ihm dafür so wenig, als sei es Brot vom Vortag. Es würde einer der kältesten Winter aller Zeiten werden, sagte sie. Andras wusste, dass er einen warmen Mantel und einen Wollschal bräuchte, seine Stiefel müssten neu besohlt werden. Für nichts von alldem hatte er Geld.
Die ganze Woche über sank die Temperatur. Die Heizkörper in der Schule verströmten eine schwache trockene Wärme; die Studenten aus dem fünften Jahr setzten sich nah daneben, die aus dem ersten Jahr froren am Fenster. Andras verbrachte hoffnungslose Stunden mit seinem Modell des Gare d’Orsay, einem Bahnhof, der bereits der Vergessenheit anheimfiel. Auch wenn er noch als Endstation der Verbindungen aus dem Südwesten Frankreichs diente, waren seine Bahnsteige zu kurz für die inzwischen eingesetzten langen Züge. Als Andras das letzte Mal zum Nachmessen dort gewesen war, hatte der Bahnhof verlassen und verwahrlost gewirkt, einige der hohen Fenster waren zerbrochen, ein Rauputz aus Schimmel verdunkelte die Bögen. Die Vorstellung, den Bahnhof zum Gedenken in Pappe nachzubauen, war nicht gerade erhebend für Andras; sein Modell war eine dürftige Hommage an ein heruntergekommenes Relikt. Am Freitag ging er allein nach Hause, zu deprimiert, um sich zu den anderen im La Colombe Bleue zu gesellen – und da lag auf dem Tisch im Eingang ein weißer Umschlag mit seinem Namen darauf, die Antwort, auf die er die ganze Woche gewartet hatte. An Ort und Stelle riss er den Brief auf. Andras, das ist sehr gern geschehen. Bitte besuchen Sie uns irgendwann wieder. Grüße, C. Morgenstern. Nicht mehr. Nichts Konkretes. Bitte besuchen Sie uns irgendwann wieder – was sollte das denn bedeuten? Andras setzte sich auf die Treppe und ließ die Stirn auf die Knie sinken. Die ganze Woche hatte er auf das hier gewartet! Grüße. Sein Herz klopfte in seiner Brust, als stehe immer noch etwas Wunderbares bevor. Er schmeckte die Scham wie einen heißen Metallsplitter auf der Zunge.
Nach der Arbeit ertrug er die Vorstellung nicht, nach Hause in sein winziges Zimmer zu gehen und sich in das Bett zu legen, in dem er nun fünf schlaflose Nächte mit Gedanken an Claire Morgenstern verbracht hatte. Stattdessen zog er seinen dünnen Mantel enger um sich und spazierte in Richtung Marais. Es machte ihm Spaß, einen unbekannten Weg durch die Straßen an der Rive Droîte einzuschlagen; er verirrte sich gerne, entdeckte mit Vergnügen Gassen und Sträßchen mit sonderbaren Namen: Rue des Mauvais Garçons, Rue des Guillemites, Rue des Blancs-Manteaux. An diesem Abend lag der Winter in der Luft, doch er war anders als der Budapester Geruch von Braunkohle und nahendem Schnee; der Pariser Winter roch feuchter, rauchiger und süßer; im Rinnstein verfaulende Kastanienblätter, der zuckrige braune Duft gerösteter Nüsse, der stechende Gestank von Benzin auf den Straßen. Überall hingen Werbeplakate für die
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