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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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hatte. Von Marie aus Marokko. Von Marcel aus Rom . Wer war eigentlich Marcel, fragte sich Andras, und was hatte er aus Rom geschrieben?
    Als er die große rote Haustür öffnete, fiel sein Blick sofort auf einen Umschlag auf dem Konsolentisch. Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und stürzte sich auf den Brief. Doch es war nicht der cremefarbene Umschlag mit Veilchenduft, den er erhofft hatte; es war ein zerknitterter brauner Umschlag mit einer Adresse in der Handschrift seines Bruders Mátyás. Anders als Tibor schrieb Mátyás nur selten; wenn er es tat, waren seine Briefe dünn und nüchtern. Dieser hier war dick, hatte ein Porto in doppelter Höhe erfordert. Andras’ erster Gedanke war, dass seinen Eltern etwas zugestoßen sei – sein Vater hatte sich verletzt, seine Mutter die Grippe –, und dann dachte er, wie lächerlich es von ihm war, einen Brief von Madame Morgenstern zu erwarten.
    In seinem Zimmer zündete er eine seiner wertvollen Kerzen an und setzte sich an den Tisch. Vorsichtig schlitzte er den braunen Umschlag mit dem Taschenmesser auf. Darin befand sich ein knittriges Bündel von Blättern, fünf insgesamt, der längste Brief, den Mátyás ihm je geschrieben hatte. Die Schrift war groß und fahrig, die Bögen mit Tintenklecksen übersät. Andras überflog die ersten Zeilen auf der Suche nach einer schlechten Nachricht über seine Eltern, fand aber keine. Wenn etwas passiert wäre, überlegte Andras, hätte Tibor ihm ein Telegramm geschickt. In diesem Brief ging es um Mátyás selbst. Er hatte erfahren, dass Andras Tibor den Zugang zum Medizinstudium in Italien geebnet hatte. Glückwunsch an beide Brüder, an Andras für die erfolgreiche Nutzung seiner exklusiven Beziehungen und an Tibor, weil er Ungarn endlich verlassen könne. Jetzt würde er, Mátyás, offenbar zurückbleiben müssen, allein, unfreiwilliger Erbe eines ländlichen Sägewerks. Ob Andras denn glaube, es sei leicht, sich anzuhören, wenn die Eltern darüber sprachen, wie aufregend Andras’ Studium sei, wie gut er sich im Unterricht mache, wie wunderbar es war, dass Tibor nun sein Medizinstudium beginnen könne, welch feine Söhne sie doch hätten? Ob Andras vielleicht vergessen habe, dass auch Mátyás hoffte, im Ausland zu studieren? Ob er alles vergessen habe, was Mátyás ihm erzählt hatte? Ob Andras glaube, Mátyás würde seine Pläne aufgeben? Wenn ja, dann solle er noch einmal richtig nachdenken. Mátyás spare Geld. Wenn er vor seinem Abschluss genug zusammenhabe, wäre ihm sein Abitur egal. Er würde nach Amerika auswandern, nach New York, und dort auf die Bühne gehen. Er würde schon einen Weg finden. In Amerika brauchte man nichts als Entschlossenheit und Arbeitsbereitschaft. Und wenn er Ungarn einmal verlassen hätte, wäre es an Andras und Tibor, sich um das Sägewerk und die Eltern zu kümmern, denn er, Mátyás, würde nie mehr zurückkehren.
    Am Ende der letzten Seite stand in ruhigerer Schrift – als hätte Mátyás den Brief eine Weile zur Seite gelegt und ihn erst beendet, als seine Wut erloschen war – ein reumütiges Hoffe, es geht dir gut . Andras stieß ein kurzes, erschöpftes Lachen aus. Hoffe, es geht dir gut! Mátyás hätte genauso gut schreiben können: »Hoffe, du bist tot.«
    Andras nahm ein Blatt Papier von seinem Schreibtisch. Lieber Mátyás, schrieb er. Wenn es Dir irgendwie hilft: Schon hundert Mal habe ich mich elend gefühlt, seit ich hier bin. Auch jetzt geht es mir so. Glaub mir, wenn ich Dir sage, dass nicht alles wunderbar ist. Was Dich betrifft, habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass Du Dein Abitur machen und nach Amerika gehen wirst, wenn es das ist, was Du willst (auch wenn es mir lieber wäre, Du kämst hierher nach Paris). Ich erwarte nicht von Dir, dass Du Dich um Apa kümmerst, auch Apa tut das nicht. Er möchte, dass Du die Schule erfolgreich abschließt. Aber Mátyás hatte recht, diese Frage aufzuwerfen, er hatte recht, wenn er wütend war, weil es keine einfache Lösung gab. Andras dachte an Claire Morgenstern, die von ihrer Mutter gesagt hatte: Es ist lange her, dass ich sie gesehen habe, sehr lange . Wie dabei ein Schatten über ihr Gesicht gehuscht war, wie ihre Augen sich mit einem Kummer gefüllt hatten, der die Trauer im Gesicht ihrer Mutter zu spiegeln schien. Was hatte die beiden getrennt, was hielt Madame Morgenstern von Budapest fern? Andras versuchte, sich wieder auf seinen Brief zu konzentrieren. Ich hoffe, dass Du nicht lange wütend auf mich

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