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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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konnte. Bis zum nächsten Tag dauerte es zwar noch lange, aber es würde reichen müssen.
    Den ganzen nächsten Tag versuchte er, nicht an sie zu denken. Er ging ins Atelier, wo sich samstagnachmittags alle zum Arbeiten einfanden; er baute an seinem Modell, scherzte mit Rosen, erfuhr von Ben Yakovs anhaltender Schwärmerei für die schöne Lucia, teilte sein Bauernbrot mit Polaner. Mittags hielt er es nicht länger aus. Er stieg an der Haltestelle Raspail zur Métro hinunter und fuhr bis Châtelet. Von dort lief er den Rest des Weges zur Rue de Sévigné; als er dort ankam, schwitzte und keuchte er in der Winterkälte. Er schaute über die Fenstervorhänge ins Studio. Kleine Mädchen in Tanzkleidung packten ihre Ballettschuhe in Leinenbeutel und stellten sich mit den Straßenschuhen in der Hand vor der Tür auf. Unter dem überdachten Studioeingang drängten sich Mütter und Kindermädchen, die Mütter im Pelz, die Kindermädchen in Wollmänteln. Einige kleine Mädchen brachen durch die Traube von Frauen und liefen zu einem Süßwarengeschäft. Andras wartete, bis sich die Menschenmenge vor der Tür auflöste, dann sah er sie im Eingang stehen: Madame Morgenstern in einem schwarzen Tanzkleid und einem eng gewickelten grauen Pullover, das Haar im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengefasst. Als alle Kinder bis auf eines abgeholt worden waren, trat Madame Morgenstern heraus, die Hand des Mädchens in ihrer. Vorsichtig stieg sie in ihren Ballettschuhen auf den Bürgersteig, als wollte sie die Sohlen nicht durch die Pflastersteine ruinieren. Auf einmal wünschte sich Andras nur noch fort.
    Aber das kleine Mädchen hatte ihn bereits entdeckt. Es ließ Madame Morgensterns Hand los und lief einige Schritte auf Andras zu, blinzelnd, als könne es ihn nicht recht erkennen. Als die Kleine nah genug war, um seinen Ärmel zu berühren, blieb sie stehen und kehrte um. Ihre Schultern hoben sich unter der blauen Wolle ihres Mantels.
    »Das ist gar nicht Papa«, sagte sie.
    Madame Morgenstern hob entschuldigend den Blick zu dem Mann, der nicht Papa war. Als sie Andras erkannte, lächelte sie und zupfte am Saum ihres Wickelpullis, eine derart mädchenhafte, befangene Geste, dass in Andras’ Brust eine Hitzewelle aufstieg. Er überquerte die wenigen Pflasterquadrate zu ihr. Er wagte es nicht, ihr zur Begrüßung die Hand zu reichen, konn te ihr kaum in die Augen sehen. Stattdessen blickte er auf den Bürgersteig und vergrub die Hände in den Taschen, wo er ein Zehn-Centimes-Stück fand, das Wechselgeld vom Brotkauf am Morgen. »Guck mal, was ich gefunden habe«, sagte er und kniete sich hin, um dem kleinen Mädchen die Münze zu geben.
    Es nahm sie entgegen und drehte sie in den Fingern. »Das hast du gefunden?«, fragte das Mädchen. »Vielleicht hat sie jemand verloren.«
    »Ich habe sie in meiner Tasche gefunden«, sagte er. »Sie ist für dich. Wenn du mit deiner Mutter einkaufen gehst, kannst du dir etwas Süßes oder eine neue Schleife fürs Haar kaufen.«
    Das Mädchen seufzte und steckte die Münze in die Seitentasche seines Leinenbeutels. »Eine Haarschleife«, sagte es. »Ich darf keine Süßigkeiten. Die sind schlecht für die Zähne.«
    Madame Morgenstern legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter und zog es zur Tür. »Wir können drinnen am Ofen warten«, sagte sie. »Da ist es wärmer.« Sie sah sich um und fing Andras’ Blick auf, bezog ihn in die Einladung ein. Er folgte ihr ins Haus, zum schweren Eisenofen, der in der Ecke des Studios stand. Durch eine kleine Scheibe in der Klappe sah man das Feuer lodern, und das kleine Mädchen kniete sich davor, um die Flammen zu betrachten.
    »Das ist ja eine Überraschung«, sagte Madame Morgenstern und schaute mit ihren grauen Augen zu ihm auf.
    »Ich war spazieren«, sagte Andras, zu schnell. »Habe mir das Viertel angesehen.«
    »Monsieur Lévi studiert Architektur«, sagte Madame Morgenstern zu dem Mädchen. »Eines Tages wird er großartige Häuser bauen.«
    »Mein Vater ist Arzt«, erwiderte das Mädchen unbeteiligt, ohne einen der beiden anzusehen.
    Andras stand neben Madame Morgenstern und wärmte seine Hände am Ofen, die Finger nur Zentimeter von ihren entfernt. Er betrachtete ihre Fingernägel, ihre sich schlank verjüngenden Gliedmaßen, den Verlauf der zierlichen Knochen unter ihrer Haut. Sie bemerkte seinen Blick, er wandte das Gesicht ab. Schweigend wärmten sie sich die Hände, während sie auf den Vater des Mädchens warteten, der wenige Minuten später

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