Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
Vom Netzwerk:
beiden Eislaufbahnen, eine im Bois de Boulogne und eine zweite im Bois de Vincennes. Andras hätte nicht gedacht, dass es in Paris kalt genug zum Schlittschuhfahren würde, doch auf beiden Plakaten wurde verkündet, dass die Teiche fest zugefroren seien. Eines zeigte ein Trio kreisender Eisbären, das andere ein kleines Mädchen in kurzem roten Rock, die Hände in einem Pelzmuff, ein schlankes Bein nach hinten ausgestreckt.
    In der Rue de Rosiers standen ein Mann und eine Frau vor einem dieser Plakate und küssten sich ungeniert, die Hände im Mantel des anderen vergraben. Andras musste an einen Zeitvertreib der Kinder in Konyár denken: Neben der Bäckerei gab es eine weiße Steinmauer, die immer warm war, weil sich der Ofen des Bäckers direkt dahinter befand. Im Winter trafen sich dort nach der Schule die Jungen, um die Tochter des Bäckers zu küssen. Die Bäckerstochter hatte blassbraune Sommersprossen, die sich wie Sesamkörner über ihre Nase verteilten. Für zehn Fillér drückte sie jeden beliebigen Jungen gegen die Mauer und küsste ihn, bis er keine Luft mehr bekam. Für fünf Fillér durfte man ihr dabei zusehen. Sie sparte auf ein Paar Schlittschuhe. Das Mädchen hieß Orsolya, aber so wurde sie nie genannt; alle nannten sie Korcsolya, das ungarische Wort für Schlittschuhe. Andras hatte sie einmal geküsst, hatte gespürt, wie ihre Zunge seine eigene abtastete, während das Mädchen ihn gegen die warme Mauer drückte. Er konnte nicht älter als acht Jahre gewesen sein; Orsolya musste zehn gewesen sein. Drei seiner Schulkameraden sahen dabei zu, feuerten ihn an. Mitten im Kuss hatte er die Augen geöffnet. Auch Orsolya hatte die Augen auf, aber sie war geistesabwesend, dachte an etwas anderes – vielleicht an ihre Schlittschuhe. Nie hatte Andras den Tag vergessen, als er aus dem Haus kam und sie auf dem Teich Schlittschuh laufen sah, das silbrige Blitzen ihrer Kufen ein neckendes Zwinkern, ein stählerner Abschiedsgruß an bezahlte Küsse. In jenem Winter wäre sie fast an einer Erkältung gestorben, da sie bei jedem Wetter Schlittschuh fuhr. »Das Mädchen wird noch im Eis einbrechen«, hatte Andras’ Mutter prophezeit, als sie Orsolya in einem frühen Märzregen ihre Runden drehen sah. Aber sie war nicht im Eis eingebrochen. Auf dem Mühlteich hatte sie den Winter überlebt, und im nächsten Winter war sie wieder da und im übernächsten schließlich auf die weiterführende Schule gegangen. Andras sah sie jetzt vor sich, eine rotberockte Gestalt im grauen Nebel, unberührbar und allein.
    Er fand seinen Weg durch die Grotte mittelalterlicher Straßen zur Rue de Sévigné, zum Haus von Madame Morgenstern. Er hatte nicht geplant herzukommen, doch nun war er hier; er stand auf dem Bürgersteig gegenüber und wippte auf den Absätzen. Es war fast Mitternacht, alle Lichter im ersten Stock waren gelöscht. Andras überquerte die Straße und spähte über die Fenstervorhänge in das dunkle Ballettstudio. Da war der Prunkwinden-Trichter des Grammofons, brutal schwarz funkelte er in einer Ecke; dort das Klavier mit seinem lang gezogenen Gebiss. Andras zitterte in seinem Mantel und stellte sich Mädchen mit rosa Tutus vor, die über die gelbe Fläche des Studiobodens tanzten. Es war bitterkalt, der Wind schneidend. Was machte er bloß um Mitternacht hier draußen auf der Straße? Es gab nur eine Erklärung für sein Verhalten: Er war verrückt geworden. Der Druck, den das Leben hier auf ihn ausübte, die einzige Chance zu nutzen und aus sich einen Mann und Künstler zu machen, erwies sich als zu viel für ihn. Andras lehnte den Kopf gegen die Wand des Eingangs, versuchte, langsamer zu atmen; nicht mehr lange, redete er sich ein, und er würde diese Verrücktheit abschütteln und nach Hause gehen. Doch dann hob er den Blick und sah das, was er, ohne es zu wissen, gesucht hatte: Im Eingang hing ein schlanker Glaskasten von der Art wie jene, in denen Restaurants ihre Speisekarten ausstellen; statt einer Speisekarte enthielt er ein weißes rechteckiges Blatt mit der Überschrift Horaire des Classes .
    Der Stundenplan, das Raster ihres Lebens. Da war er, in ihrer eigenen akkuraten Schrift verfasst. Die Vormittage waren Privatstunden vorbehalten, der frühe Nachmittag den Anfängerkursen, am späten Nachmittag waren die Fortgeschrittenen und Erfahreneren an der Reihe. Mittwochs und freitags hatte sie vormittags frei. Sonntags am Nachmittag. Jetzt wusste er immerhin, wann er durch das Fenster schauen und sie sehen

Weitere Kostenlose Bücher