Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
Vom Netzwerk:
heiße Schokolade ins Café ein. Sie saßen an langen Holztischen und tranken aus Steingutbechern, und Andras hatte keine Schwierigkeiten, den anderen das Reden zu überlassen, die Gespräche im allgemeinen Gemurmel des überfüllten Aufwärmhauses untergehen zu lassen. Das erhebende Gefühl, das ihn kurz vor Madame Gérards Ankunft beseelt hatte, löste sich bereits wieder auf; Madame Morgenstern erschien ihm wieder unerreichbar fern.
    Als sie die Schokolade ausgetrunken hatten, holte er ihre Schuhe von der Miettheke zurück, und sie verließen gemeinsam den Bois. Andras suchte nach einer Möglichkeit, Madame Morgenstern am Ellenbogen zu führen, die anderen vorgehen zu lassen, um mit ihr zurückzubleiben. Aber stattdessen war es Marthe, die sich in der strenger werdenden Kälte zu ihm gesellte.
    »Es ist sinnlos. Sie will nichts mit Ihnen zu tun haben«, sagte sie entschlossen.
    »Wer?«, fragte Andras erschrocken, so leicht durchschaubar zu sein.
    »Elisabet! Sie will nicht, dass Sie sie die ganze Zeit anstarren. Glauben Sie vielleicht, sie findet es gut, von einem armseligen Ungarn angeglotzt zu werden?«
    Andras seufzte und schaute nach vorn, wo Elisabet neben Madame Gérard ging. Der grüne Mantel schwang um ihre Beine. Sie beugte sich vor, um etwas zu Madame zu sagen, die daraufhin lachend den Kopf in den Nacken warf.
    »Sie hat kein Interesse an Ihnen«, sagte Marthe. »Elisabet hat schon einen Freund. Sie brauchen also nicht noch einmal ins Haus zu kommen. Und Sie brauchen nicht Ihre Zeit damit zu verschwenden, sich bei Elisabets Mutter einzuschmeicheln.«
    Andras räusperte sich. »In Ordnung«, sagte er. »Danke jedenfalls für die Mitteilung.«
    Marthe nickte geschäftsmäßig. »Das ist meine Pflicht als Elisabets Freundin.«
    Dann hatten sie das Ende des Parks erreicht, und Madame Morgenstern war wieder neben ihm, ihr Ärmel streifte den von Andras. Sie standen an der Treppe zur Métro, von unten hallte das Brausen der Züge hinauf. »Kommen Sie nicht mit uns?«, fragte sie.
    »Nein, kommen Sie mit uns!«, sagte Madame Gérard. »Wir nehmen ein Taxi. Wir setzen Sie zu Hause ab.«
    Es war kalt und wurde dunkel, aber Andras konnte den Gedanken nicht ertragen, in einer überfüllten Métro mit Elisabet, Marthe und Madame Morgenstern zu fahren. Genauso wenig wollte er sich mit Madame Gérard und den anderen in ein Taxi quetschen. Er wollte allein sein, den Weg zurück in seine Gegend finden, sich in seinem Zimmer einschließen.
    »Ich glaube, ich gehe zu Fuß«, sagte er.
    »Aber nächsten Sonntag kommen Sie wieder zum Mittagessen«, sagte Madame Morgenstern und schaute unter ihrer Hutkrempe zu ihm auf, die Wangen noch immer leuchtend von der Anstrengung des Schlittschuhfahrens. »Wir hoffen sogar, dass Sie es sich zur Gewohnheit machen.«
    Was hätte er schon erwidern können? »Ja, sicher, ich werde da sein«, sagte er.

   [Menü]
    10.
Rue de Sévigné
    UND SO WURDE ANDRAS EIN fester Bestandteil des Sonntagsessens in der Rue de Sévigné. Schon bald bildete sich eine gewisse Routine im Ablauf heraus: Andras kam und tauschte Höflichkeiten mit Madame Morgenstern aus; Elisabet saß da und blickte ihn düster an oder machte sich über seine Kleidung und seinen Akzent lustig; wenn es ihr nicht gelang, ihn wie beim ersten Essen aus der Reserve zu locken, war sie bald gelangweilt und ging aus, zumeist mit Marthe, die ihrerseits eine maßlose Verachtung für Andras pflegte. Sobald Elisabet fort war, setzte er sich zu Madame Morgenstern und hörte sich mit ihr Schallplatten auf dem Grammofon an, betrachtete Kunstzeitschriften und Ansichtskarten, las zur Verbesserung seines Französisch aus einem Gedichtband vor oder erzählte von seiner Familie, seiner Kindheit. Ab und zu versuchte er, das Thema auf ihre Vergangenheit zu bringen – auf den Bruder, den sie seit Jahren nicht gesehen hatte, auf die schattenhaften Geschehnisse, die in die Geburt von Elisabet gemündet und Madame Morgenstern nach Paris geführt hatten. Doch es gelang ihr immer, dieses Thema zu meiden, und sie wimmelte seine zaghaften Fragen ab wie die Hände unliebsamer Tanzpartner. Und wenn er rot anlief, weil sie sich zu nah neben ihn setzte, oder wenn er stotternd zu antworten versuchte, nachdem sie ihm ein Kompliment gemacht hatte, so zeigte sie nicht, dass sie es gemerkt hatte.
    Es dauerte nicht lange, da kannte er die genaue Form ihrer Fingernägel, den Schnitt und Stoff jedes Winterkleides, das Spitzenmuster am Saum ihrer Taschentücher.

Weitere Kostenlose Bücher