Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Oberarme, als würde sie frieren. »Andras …«
Er nannte ein Café, eine Uhrzeit. Und bevor sie noch einmal Nein sagen konnte, wandte er sich ab und ging den Korridor hinunter in den weißen Dezemberabend.
Das Café Bédouin war ein düsterer Ort, die Lederpolster waren rissig, die blauen Samtvorhänge lavendelfarben ausgeblichen. Hinter der Theke standen Reihen von verstaubten Kristallflaschen, Relikte eines vergangenen Zeitalters des Trinkens. Andras traf eine Stunde vor dem verabredeten Termin ein, krank vor Unruhe, fassungslos über das, was er getan hatte. Hatte er sie wirklich gebeten, mit ihm etwas trinken zu gehen? Sie mit dem Vornamen angesprochen, in der vertraulichen ungarischen Form? Mit ihr geredet, als seien seine Gefühle zulässig, als könnten sie gar erwidert werden? Was erwartete er nun? Wenn sie kam, dann nur um zu bestätigen, dass er sich unangemessen verhalten hatte, und vielleicht um ihm mitzuteilen, dass sie ihn sonntags nachmittags nicht mehr in ihrem Haus empfangen könne. Zugleich war er jedoch überzeugt, dass sie seine Gefühle bereits seit Wochen kannte, sie seit dem Tag, als sie im Bois de Vincennes eislaufen gewesen waren, einfach kennen musste. Es war an der Zeit, ehrlich zueinander zu sein; vielleicht war nun der richtige Augenblick gekommen zu gestehen, dass er den Brief ihrer Mutter aus Ungarn mitgebracht hatte. Andras starrte auf die Tür, als wollte er sie aus den Angeln heben. Jedes Mal, wenn eine Frau hereinkam, sprang er von seinem Stuhl auf. Er schüttelte die Taschenuhr seines Vaters, um sicherzugehen, dass sie nicht kaputt war, zog sie wieder auf, um sich zu vergewissern, dass sie nicht nachging. Eine halbe Stunde verstrich, dann die nächste. Sie kam zu spät. Er schaute in sein leeres Whiskyglas und fragte sich, wie lange er in dieser Kneipe sitzen konnte, ohne ein zweites Getränk bestellen zu müssen. Die Kellner liefen vorbei, warfen diensteifrige Blicke in seine Richtung. Andras bestellte noch einen Whisky und trank ihn, über das Glas gebeugt. Niemals hatte er sich verzweifelter oder törichter gefühlt. Irgendwann ging die Tür wieder auf – und da stand sie mit ihrem roten Hut und ihrem eng anliegenden grauen Mantel, atemlos, als sei sie den ganzen Weg vom Theater gelaufen. Andras sprang von seinem Stuhl auf.
»Ich hatte Angst, ich würde Sie verpassen«, sagte sie und seufzte erleichtert. Sie nahm ihren Hut ab und schlüpfte in die Sitzbank ihm gegenüber. Sie trug ein gut sitzendes Gabardinejäckchen, am Kragen mit einer feinen Silbernadel in Form einer Harfe verschlossen.
»Sie sind zu spät«, sagte Andras, der den Whisky in seinem Kopf wie einen Bienenschwarm spürte.
»Die Probe war erst vor zehn Minuten zu Ende! Sie sind weggelaufen, bevor ich Ihnen sagen konnte, ab wann ich Zeit habe.«
»Ich hatte Angst, Sie würden sagen, dass Sie mich gar nicht sehen wollen.«
»Ganz recht. Ich dürfte gar nicht hier sein.«
»Warum sind Sie dann gekommen?« Andras griff über den Tisch nach ihrer Hand. Ihre Finger waren eiskalt, doch er durfte sie ihr nicht wärmen. Sie entzog ihm die Hand und errötete hinter dem Kragen ihrer Jacke.
Der Kellner wollte ihre Bestellung aufnehmen, hoffnungsvoll, dass der junge Mann jetzt mehr Geld ausgeben würde, da seine Freundin gekommen war. »Ich hatte Whisky«, sagte Andras. »Trinken Sie einen Whisky mit mir. Das trinken die amerikanischen Filmstars auch.«
»Ich bin nicht in der Stimmung«, sagte sie. Stattdessen bestellte sie einen Brunelle und ein Glas Wasser. »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte sie, als der Kellner sich entfernt hatte. »Ein Glas, dann gehe ich.«
»Ich muss Ihnen etwas erzählen«, erklärte Andras. »Deshalb wollte ich Sie treffen.«
»Was denn?«, fragte sie.
»Bevor ich Budapest verließ, traf ich eine Frau namens Elza Hász.«
Das Gesicht von Madame Morgenstern verlor jede Farbe. »Und?«, sagte sie.
»Ich besuchte ihr Haus auf der Benczúr utca. Sie hatte in der Bank gesehen, dass ich Pengő gegen Francs tauschte, und wollte, dass ich ihrem Sohn in Paris eine Kiste überbringe. Es war eine andere Frau bei ihr, eine ältere Dame, die mich bat, noch etwas anderes mitzunehmen. Einen Brief an C. Morgenstern auf der Rue de Sévigné. Und sie bat mich, keinerlei Fragen zu stellen.«
Madame Morgenstern war so blass geworden, dass Andras fürchtete, sie könne ohnmächtig werden. Als der Kellner kurz darauf ihre Getränke brachte, nahm sie ihren Brunelle und leerte das halbe Glas in einem
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