Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
doch sie wollte nicht sitzen. Sie stellte sich ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter, auf das Collège de France gegenüber, wo die Clochards nachts auf der Treppe saßen, selbst bei Frost. Einer von ihnen spielte Mundharmonika; die Musik erinnerte Andras an die weite, offene Steppe in den amerikanischen Filmen, die er im winzigen Kino in Konyár gesehen hatte. Klara lauschte, und er entzündete ein Feuer im Öfchen, röstete einige Scheiben Brot und erhitzte Wasser für den Tee. Er besaß nur eine Tasse – das Marmeladentöpfchen, das er seit seinem ersten Morgen in der Wohnung benutzte. Doch er hatte einige Zuckerwürfel, stibitzt aus der Schale im La Colombe Bleue. Andras reichte Klara den improvisierten Becher, und sie rührte mit seinem einzigen Löffel etwas Zucker in ihren Tee. Er wünschte sich, sie würde sprechen, würde die schrecklichen Geheimnisse ihrer Vergangenheit offenbaren, was auch immer es war. Er konnte sich die genauen Umstände ihrer Geschichte nicht ausmalen, obwohl er annahm, dass sie etwas mit Elisabet zu tun hatten: eine ungewollte Schwangerschaft, ein eifersüchtiger Liebhaber, tobende Verwandte, unaussprechliche Schmach.
Es zog durch den undichten Fensterrahmen, und Klara fröstelte. Sie gab Andras das Teeglas. »Trink du auch was«, sagte sie. »Bevor er kalt wird.«
Sein Hals zog sich vor Emotion zusammen. Zum ersten Mal hatte sie ihn mit dem vertrauten te anstatt mit dem förmlichen maga angesprochen. »Nein«, sagte er. »Den habe ich für dich gemacht.« Für dich: te . Er reichte ihn ihr zurück, und sie schloss ihre Hände um seine. Der Tee zitterte zwischen ihnen im Becher. Sie nahm ihn und stellte ihn auf dem Fensterbrett ab. Dann kam sie auf ihn zu, schlang die Arme um seine Taille und schob ihren dunklen Kopf unter sein Kinn. Andras hob die Hand, um ihren Rücken zu streicheln, konnte sein Glück nicht fassen, hatte zugleich Angst, diese Nähe sei unrechtmäßig, die Folge seiner Enthüllung und ihrer verwirrten Gefühle. Doch während sie so da standen, fest aneinandergedrückt, vergaß er, wodurch ihnen dieser Augenblick beschert worden war. Er ließ seine Hand ihren geschwungenen Rücken entlanggleiten, erlaubte sich, die Architektur ihres Rückgrats abzutasten. Sie war ihm so nahe, dass er ihren Brustkorb spürte, als sie tief einatmete; einen Augenblick später löste sie sich von ihm, schüttelte den Kopf.
Er hob die Hände, kapitulierend. Doch sie holte bereits ihren Mantel von der Garderobe, band sich ihren Schal um den Hals, setzte den roten glockenförmigen Hut auf.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich muss gehen. Es tut mir leid.«
Am nächsten Abend um sieben Uhr ging er zum Spectacle d’Hiver. Das Sarah-Bernhardt war voll besetzt mit den Familien der kleinen Tänzerinnen, eine aufgeregt plappernde Menschenmenge. Alle Eltern hatten mit Bändern geschmückte Rosensträuße für ihre Töchter mitgebracht. An den Gängen hingen Tannengirlanden, das Theater duftete nach Rosen und Kiefern. Der Geruch holte Andras aus dem Nebel, in dem er seit der vergangenen Nacht lebte. Sie war hinter der Bühne; in zwei Stunden würde er sie sehen.
Im Orchestergraben begannen Geigen zu spielen, der Vorhang hob sich und gab den Blick frei auf sechs Mädchen in weißen Trikots und spitzen Tüllzipfeln. Sie schienen über den silbrigen Brettern zu schweben, ihre Bewegungen waren traumgleich und exakt. Sie bewegten sich so wie sie , dachte Andras. Sie hatte ihre Präzision, ihre Gelenkigkeit in diese kleinen Mädchen, in die formbaren Gefäße ihrer Körper destilliert. Er hatte das Gefühl, in einem sonderbaren Traum gefangen zu sein; irgendetwas war in der letzten Nacht in ihm zerbrochen. Er hatte keine Ahnung, wie er sich in so einer Situation verhalten sollte. Nichts in seinem Leben hatte ihn darauf vorbereitet. Ebenso wenig konnte er sich vorstellen, was sie gedacht haben mochte – was sie nun von ihm denken musste, nachdem er sie auf diese Weise berührt hatte. Am liebsten wäre er sofort hinter die Kulissen gelaufen und hätte es hinter sich gebracht, was auch immer ihm bevorstand.
Doch als er in der Pause wirklich hinter den Vorhang hätte gehen können, wurde er von einer derart heftigen Panik erfasst, dass er kaum noch Luft bekam. Er ging nach unten auf die Herrentoilette, wo er sich in einer Kabine einschloss und seinen rasenden Puls zu beruhigen versuchte. Er lehnte die Stirn gegen die kühle Marmorwand. Die Stimmen von Männern um ihn herum hatten eine
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