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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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hatten ihre Rolle als Schneeflocke, Zuckerfee oder Schwan verinnerlicht, die Winterlandschaft stand bereit. Unter der Woche waren Andras’ Werbeplakate überall in der Stadt aufgehängt worden: die Silhouette eines als Schneeflocke verkleideten Mädchens vor einem sternenbesetzten Winterhimmel, ein Bein zu einer Arabesque gestreckt. Die Worte Spectacle d’Hiver zogen die emporgestreckte rechte Hand wie einen Kometenschweif hinter sich her. Wann immer Andras das Plakat gesehen hatte – auf dem Weg zur Schule, an der Mauer gegenüber vom La Colombe Bleue, in der Bäckerei –, hatte er das Echo von Madame Morgensterns Stimme gehört: Sie kommen doch hin, oder?
    Am Donnerstag, dem Abend der Generalprobe, hatte er das Gefühl, keinen Tag länger warten zu können, bis er sie wiedersah. Zur gewohnten Zeit traf er im Sarah-Bernhardt ein, in der Hand einen großen Pflaumenkuchen für den Kaffeetisch. Die Gänge hinter der Bühne waren bevölkert mit Mädchen in weißem und silbernem Tüll; sie drängten sich um ihn, schneesturmgleich, als er in die Ecke schlüpfte, wo der Kaffeetisch aufgebaut war. Mit dem Taschenmesser schnitt Andras den Kuchen in viele kleine Stücke. Eine Gruppe von Mädchen in Schneeflockenkostümen sammelte sich am Rand des Vorhangs und wartete auf den Auftritt. Während sie auf Zehenspitzen zu ihrem Platz trippelten, warfen sie neugierige Blicke auf den Kaffeetisch mit dem Kuchen. Andras hörte einen Inspizienten die nächste Tanzgruppe aufrufen. Madame Morgenstern – Klara, wie Madame Gérard sie nannte – war nirgends zu sehen.
    Andras schaute aus der Kulisse zu, wie die kleinen Mädchen ihren Schneeflockentanz aufführten. Das Mädchen, das einmal zu spät von seinem Vater abgeholt worden war, befand sich unter den Kindern; als es nach dem Tanz zurück in die Kulissen lief, winkte die kleine Sophie Andras zu und zeigte ihm ihre neue Brille. Sie hatte biegsame Drahtbügel, die sich um ihre Ohren wanden. Diese Brille würde beim Tanzen nicht abfallen, erklärte die Kleine. Als sie zur Veranschaulichung eine Pirouette vollführte, hörte er Madame Morgenstern hinter sich lachen.
    »Ah«, sagte sie. »Die neue Brille.«
    Andras gestattete sich einen kurzen Blick auf sie. Klara trug ihr schlichtes Tanzkleid, das dunkle Haar war zu einem festen Knoten gesteckt. »Genial«, sagte er und bemühte sich, seine Stimme nicht beben zu lassen. »Die geht nicht mehr ab.«
    »Sie geht ab, wenn ich es will«, sagte das Mädchen. »Ich nehme sie nachts ab.«
    »Na, klar«, sagte Andras. »Ich wollte damit ja nicht sagen, dass du sie immer trägst.«
    Die Kleine verdrehte die Augen in Richtung von Madame Morgenstern und lief zum Kaffeetisch, wo die anderen Schneeflocken bereits den Pflaumenkuchen verschlangen.
    »Das ist ja eine Überraschung«, sagte Madame Morgenstern. »Ich habe nicht damit gerechnet, Sie vor dem Wochenende zu sehen.«
    »Ich arbeite hier, falls Sie das vergessen haben«, sagte Andras und verschränkte die Arme. »Ich bin verantwortlich für das Wohlergehen und die gute Laune der Darsteller.«
    »Der Kuchen geht auf Ihr Konto, nehme ich an?«
    »Die Mädchen scheinen nichts dagegen zu haben.«
    »Aber ich. Ich erlaube nichts Süßes hinter der Bühne.« Doch sie zwinkerte ihm zu und ging zu dem Tisch, um sich selbst ein Stück zu nehmen. Er war golden und schwer, großzügig belegt mit halben Pflaumen. »Oh«, sagte sie, »der ist aber gut. Das wäre nicht nötig gewesen. Nehmen Sie wenigstens selbst etwas davon.«
    »Das wäre nicht professionell.«
    Madame Morgenstern lachte. »Sie treffen mich leider in einem sehr beschäftigten Moment an. Ich muss die nächste Tanzgruppe auf die Bühne bringen.« Sie wischte sich die goldenen Krumen von den Händen, und Andras stellte sich vor, wie Pflaumen von ihren Fingern schmeckten.
    »Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe«, sagte er. Er war schon so weit zu sagen: Dann gehe ich jetzt , so weit, sie ihrer Probe zu überlassen, doch dann dachte er an sein leeres Zimmer und an die langen Stunden, die zwischen diesem und dem nächsten Abend lagen, dachte an den leeren Zeitraum, der sich nach dem Donnerstag in die Zukunft erstreckte, wenn er keine Ausrede haben würde, sie zu sehen. Er schaute ihr in die Augen. »Gehen Sie heute Abend etwas mit mir trinken«, sagte er.
    Sie zuckte leicht zusammen. »Oh, nein«, flüsterte sie. »Das kann ich nicht.«
    »Bitte, Klara«, sagte er. »Ich ertrage es nicht, wenn Sie Nein sagen.«
    Sie rieb sich die

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