Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Zug.
»Ich denke, Sie sind Klara Hász«, sagte er mit gesenkter Stimme. »Oder waren es zumindest. Und die Frau, die ich getroffen habe, war Ihre Mutter.«
Ihre Lippen bebten, sie warf einen Blick zur Tür. Kurz sah es aus, als würde sie fliehen wollen. Dann sank sie auf ihrem Stuhl zusammen und barg den Kopf in den Händen. »In Ordnung«, sagte sie. »Sagen Sie mir, was Sie wissen und was Sie wollen.« Ihre Stimme war zu einem Flüstern verkümmert; mehr als alles andere klang sie verängstigt.
»Ich weiß gar nichts«, sagte Andras und griff wieder nach ihrer Hand. »Ich will gar nichts. Ich wollte Ihnen nur sagen, was passiert ist. Was das für ein seltsamer Zufall war. Und ich wollte Sie wissen lassen, dass ich Ihre Mutter kennengelernt habe. Ich weiß ja, dass Sie sie seit Jahren nicht mehr gesehen haben.«
»Und Sie haben meinem Neffen József eine Kiste mitgebracht?«, fragte sie. »Haben Sie mit ihm darüber gesprochen? Über mich?«
»Nein, kein einziges Wort.«
»Gott sei Dank«, sagte sie. »Das dürfen Sie nicht, verstehen Sie?«
»Nein«, sagte er. »Das verstehe ich nicht. Ich habe keine Ahnung, was das alles bedeutet. Ihre Mutter bat mich, mit niemandem über den Brief zu sprechen, und ich habe mich daran gehalten. Niemand weiß Bescheid. Beziehungsweise fast niemand – ich habe ihn meinem Bruder gezeigt, als ich von Ihrer Mutter nach Hause kam. Er dachte, es wäre ein Liebesbrief.«
Klara stieß ein trauriges Lachen aus. »Ein Liebesbrief! Irgendwie war er das wohl auch.«
»Können Sie mir nicht verraten, was das alles zu bedeuten hat?«
»Das ist eine Privatangelegenheit. Es tut mir leid, dass Sie mit hineingezogen wurden. Ich kann keinen direkten Kontakt zu meiner Familie in Budapest aufnehmen, und meine Verwandten können mir nichts direkt schicken. József darf nicht wissen, dass ich hier bin. Haben Sie ihm auch ganz bestimmt nichts gesagt?«
»Kein Wort«, sagte Andras. »Ihre Mutter wies mich ausdrücklich darauf hin.«
»Es tut mir leid, dass ich so ein Drama daraus mache. Aber es ist sehr wichtig, dass Sie das verstehen. Es sind schreckliche Dinge passiert in Budapest, als ich jung war. Jetzt bin ich in Sicherheit, aber nur, solange niemand weiß, dass ich hier bin oder wer ich war, bevor ich herkam.«
Andras wiederholte seinen Schwur. Wenn sein Schweigen sie beschützen würde, käme nichts über seine Lippen. Wenn sie ihn gebeten hätte, sein Gelübde in Blut auf den grauen Marmor des Cafétisches zu schreiben, hätte er ein Messer in die Hand genommen und es getan. Stattdessen trank sie ihr Glas aus, ohne etwas zu sagen, ohne ihm in die Augen zu schauen. Die silberne Harfe an ihrer Kehle bebte.
»Wie sah meine Mutter aus?«, fragte sie schließlich. »Hat sie graues Haar bekommen?«
»Es ist grau meliert«, erklärte Andras. »Sie trug ein schwarzes Kleid. Sie ist eine zarte Person – so wie Sie.« Er berichtete ihr einige Einzelheiten über seinen Besuch – wie das Haus ausgesehen hatte, was ihre Schwägerin gesagt hatte. Von der Traurigkeit ihrer Mutter erzählte er nichts, auch nicht von dem in ihrem Gesicht eingegrabenen Kummer, an den er seither so oft hatte denken müssen – was hätte das genutzt? Dafür erzählte Andras ihr ein wenig über József Hász – dass er Andras eine Übernachtungsmöglichkeit angeboten hatte, als er in die Stadt kam, von seinen Ratschlägen, wie man das Leben im Quartier Latin meisterte.
»Und was ist mit György?«, fragte sie. »Józsefs Vater?«
»Ihrem Bruder.«
»Genau«, sagte sie, leise. »Haben Sie ihn auch gesehen?«
»Nein«, sagte Andras. »Ich war nur ungefähr eine Stunde da, mitten am Tag. Er muss arbeiten gewesen sein. Aber nach dem Haus zu urteilen, würde ich sagen, es geht ihm gut.«
Klara legte eine Hand an die Schläfe. »Das ist alles ganz schön schwer zu verkraften. Ich glaube, das reicht fürs Erste«, sagte sie, und dann: »Es ist wohl besser, wenn ich nun gehe.« Als sie aufstand, um ihren Mantel anzuziehen, schwankte sie und hielt sich an der Tischkante fest.
»Sie haben nichts gegessen, oder?«, fragte Andras.
»Ich muss an einen ruhigen Ort.«
»Es gibt da ein Restaurant …«
»Kein Restaurant.«
»Ich wohne nur ein paar Straßen entfernt. Trinken Sie eine Tasse Tee bei mir. Anschließend bringe ich Sie nach Hause.«
Und so gingen sie zu seiner Dachstube, stiegen die nackte Holztreppe der Rue des Écoles 34 empor, hoch hinauf bis zu seinem zugigen, kahlen Zimmer. Andras bot ihr den Stuhl an,
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