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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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beruhigende Wirkung auf ihn; es waren Väter, sie klangen wie Väter. Fast konnte er sich vorstellen, dass sein eigener Vater draußen wartete, wenn er herauskäme. Auch wenn Glücks-Béla sparsam mit Ratschlägen war, würde er seinem Sohn sagen, was zu tun sei. Doch als Andras herauskam, wartete niemand auf ihn, den er kannte; er war allein in Paris, und Klara war oben.
    Die Lampen flackerten zum Zeichen, dass die Pause zu Ende war. Andras ging hinauf und nahm seinen Platz in dem Moment ein, als der Raum in Dunkelheit versank. Ein paar raschelnde Momente, dann leuchteten blaue Lampen an der Lichtschiene hinter dem Steg auf; aus dem Orchestergraben stieg eine hohe, kühle Folge von Holzblasnoten, und die Schneeflocken kamen zum Tanz auf die Bühne geweht. Andras wusste, dass Klara direkt hinter dem Vorhang links der Bühne stand. Sie war diejenige, die den Musikern den Einsatz gegeben hatte. Die Mädchen tanzten perfekt und wurden dann von größeren Mädchen abgelöst, diese wiederum von noch älteren, als würden sie hinter der Bühne jedes Mal altern, wenn das Licht gedämmt wurde. Am Ende der Vorstellung kamen alle zur Verbeugung auf die Bühne und riefen nach ihrer Lehrerin.
    Sie kam in einem schlichten schwarzen Kleid heraus, eine orangerote Dahlie hinter dem Ohr, wie ein Mädchen auf einem Gemälde von Mucha. Zuerst verbeugte Klara sich vor den jungen Tänzerinnen, dann vor dem Publikum. Sie dankte den Musikern und dem Dirigenten. Anschließend verschwand sie wieder in den Kulissen und ließ die Mädchen den Triumph ihrer Vorhänge genießen.
    Andras spürte seine Panik zurückkehren, hörte sie auf tausend Füßen herantrippeln. Bevor sie ihn erneut ergreifen konnte, schlüpfte er aus der Sitzreihe und lief hinter die Bühne, wo Klara inmitten eines Pulks von geschminkten tüllberockten Mädchen stand. Er kam nicht an sie heran. Doch sie schien nach ihm Ausschau zu halten, zumindest nach jemand Bestimmtem; sie ließ ihren Blick über die Köpfe der kleinen Mädchen in die dunklen Ecken hinter der Bühne schweifen. Ihre Augen zuckten an ihm vorbei und kehrten kurz zurück. Er wusste nicht, ob ihr Lächeln sich in dem Moment kurz verdunkelte oder ob er es sich nur eingebildet hatte. Auf jeden Fall hatte sie ihn gesehen. Er nahm seinen Hut ab und knetete die Krempe, bis die Menschenmenge um sie herum sich langsam auflöste. Als die Eltern hinter die Bühne stürzten, um ihren Kindern Blumensträuße zu schenken, verfluchte er sich selbst, keine Blumen mitgebracht zu haben. Er sah, dass viele Eltern nicht nur für ihre Tochter, sondern auch für Klara Rosen dabeihatten. Sie würde einen ganzen Wagen voller Sträuße nach Hause schaffen müssen, doch keinen von ihm. Der Vater der bebrillten kleinen Sophie schenkte Madame ein besonders großes Gesteck – rote Rosen, bemerkte Andras. Er sah, wie sie höflich zahllose Einladungen zu feierlichen Festessen ablehnte; sie behauptete, sie sei erschöpft und müsse sich ausruhen. Es dauerte fast eine Stunde, bis alle Mädchen mit ihren Verwandten nach Hause gegangen waren und Klara und Andras allein zurückblieben. Inzwischen hatte er seinen Hut völlig außer Form gebracht. Sie hatte die Arme voller Blumen; er konnte Klara nicht umarmen, nicht mal ihre Hand nehmen.
    »Du hättest nicht warten müssen«, sagte sie und lächelte ihn halb vorwurfsvoll an.
    »Du hast eine Menge Rosen«, war alles, was er hervorbrachte.
    »Hast du schon gegessen?«
    Hatte er nicht, und er sagte es ihr. Im Requisitenlager fand er einen Korb, in den er die Blumen legte und mit einem Tuch abdeckte, um sie vor der Kälte zu schützen. Als er Klara in den Mantel half, fing er einen fragenden Blick von Pély, dem Hausmeister, auf, der bereits den abendlichen Schneefall aus Pailletten und Rosenblättern auffegte. Andras lüpfte zum Abschied den Hut, und sie gingen durch den Bühneneingang nach draußen.
    Beim Gehen hakte Klara sich bei Andras unter und ließ sich von ihm zu einem weiß getünchten Café in der Nähe der Bastille führen. Es war ein Lokal, an dem er bei seinen Spaziergängen durch Paris oft vorbeigekommen war; es hieß Aux Marocaines. Auf den niedrigen Tischen standen grüne Schalen mit Kardamom. In Holzregalen an den Wänden fand sich marokkanische Keramik. Alles wirkte wie in einem kleineren Maßstab gebaut, wie für Klara gemacht. Hier konnte Andras es sich leisten, sie zum Essen einzuladen, wenn auch nur knapp; eine Woche zuvor hatte er einen Weihnachtszuschlag von Monsieur

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