Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
gedacht, dass Sie Ihren Gefühlen nachgeben würden.«
Andras rieb die Handflächen über seine Oberschenkel. »Ich hätte es nicht tun sollen«, sagte er.
»Es ist gut, dass sie einen Schlussstrich gezogen hat«, sagte Madame Gérard. »Sie wusste, dass es nicht richtig war. Klara hat Sie zu sich eingeladen, weil sie dachte, Sie könnten sich mit ihrer Tochter anfreunden. Sie hätten nicht mehr hingehen dürfen, sobald Sie merkten, dass Ihnen nichts an Elisabet liegt.«
»Da war es schon zu spät«, sagte Andras. »Ich konnte nicht aufhören.«
»Sie kennen Klara nicht«, sagte Madame Gérard. »Woher auch – nach ein paar Mittagessen und einer einwöchigen Affäre. Sie hat noch keinen Mann glücklich gemacht. Sie hätte zahllose Möglichkeiten gehabt – und wenn ich das sagen darf, respektable Herren, nicht Architekturstudenten aus dem ersten Jahr. Glauben Sie nicht, Klara hätte es an Verehrern gemangelt. Wenn sie sich jemals auf etwas Ernsthaftes einlassen sollte, dann nur, damit der Betreffende sie heiratet – will sagen, sie möchte jemanden, der ihr das Leben erleichtert, der sie versorgt. Was Sie, mein Lieber, nicht von sich behaupten können.«
»Daran müssen Sie mich nicht erinnern.«
»Na, einer muss es ja wohl!«
»Und nun?«, wollte Andras wissen. »Ich kann ja nicht so tun, als wäre nichts passiert.«
»Warum nicht? Es ist aus mit euch beiden. Haben Sie doch selbst gesagt.«
»Für mich ist es nicht vorbei. Ich bekomme sie nicht aus dem Kopf.«
»Ich würde Ihnen raten, es trotzdem zu versuchen«, sagte Madame Gérard. »Sie ist einfach nicht gut für Sie.«
»Und das ist alles? Ich soll sie einfach vergessen?«
»Es wäre das Beste.«
»Unmöglich«, sagte Andras.
» Pauvre chéri «,sagte Madame Gérard. »Es tut mir leid. Aber Sie werden drüber hinwegkommen. Junge Männer schaffen das.« Sie widmete sich wieder dem Packen, legte goldene und silberne Schminkstifte in ein Kästchen mit einem Dutzend kleiner Schubladen. Ein vertrauliches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen; sie rollte eine Rougetube zwischen den Fingern und schaute dabei zu Andras hinüber. »Jetzt, da Klara Sie hat fallen lassen, gehören Sie zu einem erlauchten Kreis, wissen Sie das? Die meisten Männer kommen nicht so weit.«
»Bitte«, sagte er. »Ich ertrage es nicht, wenn Sie so von ihr sprechen.«
»Es ist der Vater des Mädchens, müssen Sie wissen. Ich denke, dass sie ihn immer noch liebt.«
»Elisabets Vater«, sagte Andras. »Lebt er hier in Paris? Hat sie noch Kontakt zu ihm?«
»Oh, nein. Er starb vor vielen Jahren, soweit mir bekannt ist. Aber der Tod ist nicht das Ende der Liebe, wie Sie eines Tages verstehen werden.«
»Wer war der Mann?«
»Das weiß ich leider nicht. Klara ist verschwiegen in Bezug auf ihre Vergangenheit.«
»Dann ist es also hoffnungslos. Ich soll die Sache vergessen, weil sie einen toten Mann liebt.«
»Sehen Sie es doch als das, was es war: ein netter Zeitvertreib. Die Befriedigung gegenseitiger Neugier.«
»Für mich war es mehr.«
Madame Gérard neigte den Kopf zur Seite und lächelte wieder dieses schreckliche, allwissende Lächeln. »Ich bin leider die Falsche, um Ratschläge in Sachen Liebe zu erteilen. Es sei denn, Sie möchten gerne von Ihren romantischen Vorstellungen befreit werden.«
»Dann entschuldigen Sie mich bitte, wenn ich Sie nun dem Packen überlasse.«
»Mein lieber Junge, dafür brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen.« Sie erhob sich, küsste ihn auf beide Wangen und schob ihn in den Flur. Andras hatte keine andere Wahl, als an die Arbeit zurückzukehren; er tat es in stummer Bestürzung und bereute, sich ihr anvertraut zu haben.
Es gab einen großen Quell des Trosts, eine überraschende Neuigkeit, die per Telegramm aus Budapest eingetroffen war: Tibor würde zu Besuch kommen. Sein Studium in Modena begann Ende Januar, doch bevor er nach Italien aufbrach, wollte er eine Woche lang Paris besuchen. Als Andras das Telegramm erhielt, jubelte er im Treppenhaus so laut los, dass die Concierge in den Flur stürmte und ihn zurechtwies. Andras brachte sie durch einen Kuss auf die Stirn zum Schweigen und zeigte ihr das Telegramm: Tibor würde kommen. Tibor, sein älterer Bruder. Die Concierge gab der Hoffnung Ausdruck, sein älterer Bruder würde ein bisschen Benehmen in Andras prügeln, und ließ ihn im Flur zurück, wo er seine Freude allein genoss. Andras hatte Klara in seinen Briefen an Tibor nie erwähnt, aber er hatte dennoch das Gefühl, Tibor sei
Weitere Kostenlose Bücher