Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
dich vorbereitet.«
»Und was hast du deiner Tochter gesagt?«
Sie senkte den Blick auf den Einband des Buches. »Ich habe ihr gesagt, ich würde einen Freund besuchen.«
»Ein Jammer, dass das nicht stimmt.«
Klara stand auf, kam durch den Raum zu ihm, legte die Hände auf seine Arme. »Bitte, Andras«, sagte sie. »Sprich nicht so mit mir.«
Er löste sich von ihr und zog seinen Mantel aus, seinen Schal. Endlos, wie es ihm schien, brachte er kein Wort heraus; er ging zum Öfchen und verschränkte die Arme, spürte die aufsteigende Wärme der brennenden Kohlen. »Es war schon schlimm genug, nicht zu wissen, ob ich dich jemals wiedersehen würde«, sagte er. »Ich hab mir eingeredet, es sei vorbei, aber ich konnte mich nicht davon überzeugen, dass es wirklich stimmte. Am Ende vertraute ich mich Marcelle an. Sie war so freundlich, mir zu sagen, ich sei nicht allein mit meinem Elend. Sie sagte, ich gehörte zu einem erlauchten Kreis von Männern, denen du den Laufpass gegeben hättest.«
Klaras graue Augen verdunkelten sich. »Den Laufpass gegeben? Du meinst, das hätte ich getan?«
»Den Laufpass geben, fallen lassen, vor die Tür setzen. Es ist ja wohl egal, wie man es nennt.«
»Wir kamen zu dem Schluss, es sei unmöglich.«
» Du kamst zu dem Schluss.«
Klara ging zu ihm und fuhr mit den Händen über seine Arme, und als sie zu seinem Gesicht aufschaute, sah er, dass sie Tränen in den Augen hatte. Zu seinem Entsetzen wurden auch seine Augen feucht. Dies war Klara, deren Namen er aus Budapest hergetragen hatte; Klara, deren Stimme im tiefen Schlaf zu ihm kam.
»Was willst du?«, sprach er in ihr Haar. »Was soll ich tun?«
»Es ist mir furchtbar gegangen«, sagte sie. »Ich kann nicht aufhören. Ich möchte dich kennenlernen, Andras. Ich möchte wissen, wer du bist.«
»Und ich möchte wissen, wer du bist«, sagte er. »Ich ertrage keine Heimlichkeiten.« Doch schon als er das sagte, wusste er, dass das Verborgene sie für ihn noch anziehender machte; es war etwas Peinigendes an ihrer Unergründlichkeit, in den Kammern, die hinter denen verborgen waren, in die sie ihn vorgelassen hatte.
»Du musst Geduld mit mir haben«, sagte sie. »Du musst mir Zeit geben, Vertrauen zu dir aufzubauen.«
»Ich habe Geduld«, sagte er. Er drückte sie so fest an sich, dass ihre spitzen Hüftknochen sich gegen ihn pressten. »Claire Morgenstern«, sagte er. »Klárika.« Sie würde ihn zugrunde richten, dachte er. Aber er hätte sie genauso wenig fortschicken können, wie er Architektur von Geometrie, die Kälte vom Januar oder den Winterhimmel von seinem Fenster hätte trennen können. Er beugte sich zu ihr vor und küsste sie. Dann nahm er sie zum ersten Mal mit in sein eigenes Bett.
Als er am nächsten Morgen in die Welt trat, war sie ein veränderter Ort. Die Stumpfheit der Wochen ohne Klara war verschwunden. Er war wieder Mensch geworden, hatte sein eigenes Fleisch und Blut zurückgewonnen und ihres dazu. Alles glitzerte grell in der Wintersonne; jedes Detail der Umgebung stürzte auf ihn ein, als sähe er es zum ersten Mal. Wieso hatte er nie bemerkt, wie das Licht vom Himmel auf die kahlen Äste der Linden vor seinem Mietshaus fiel, wie es sich auf den nassen Pflastersteinen brach, von polierten Messingtürgriffen wie weiße Nadeln gestreut wurde? Andras genoss das erfrischende Klappern seiner Sohlen auf dem Trottoir, verliebte sich in die Eiskaskade des gefrorenen Brunnens im Luxembourg. Am liebsten hätte er irgendjemandem wortreich für den herrlichen langen Korridor des Boulevard Raspail gedankt, der ihn jeden Tag vorbei an der Gebäudeflucht aus der Haussmann-Ära zu den blauen Türen der École Spéciale leitete. Er bewunderte den von Wintersonne überfluteten leeren Innenhof, die einsamen grünen Bänke, die vom geschmolzenen Schnee nassen Wege. Ein Vogel mit gesprenkelter Brust auf einem Zweig sang klar und deutlich ihren Namen: Klara, Klara.
Andras lief hoch ins Atelier und suchte unter den Zeichnungen nach den neuen Entwürfen, an denen er mit Polaner gearbeitet hatte. Er hatte vor, sich ein wenig mit ihnen zu beschäftigen, bevor er zu seiner morgendlichen Französischstunde bei Vago ging. Doch die Zeichnungen waren nicht da; Polaner hatte sie offenbar mit nach Hause genommen. Andras griff sich stattdessen das Lehrbuch mit dem architektonischen Wortschatz, in dem er später mit Vago arbeiten würde, und lief kurz nach unten zur Herrentoilette. Er stieß die Tür zum hallenden Dunkel auf und
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