Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
tastete nach dem Lichtschalter. Aus der hinteren Ecke des Raumes kam ein tiefes, pfeifendes Stöhnen.
Andras knipste das Licht an. Auf dem Boden, hinter den Urinalen und Waschbecken, lag ein Mensch, zu einem schmalen G gekrümmt. Eine kleine Gestalt, ein Mann, in einer Samtjacke. Neben ihm ein Stoß Zeichnungen, zerknüllt und zertrampelt.
»Polaner?«
Wieder dieses Geräusch. Ein Keuchen, das in ein Stöhnen überging. Und dann sein Name.
Andras ging hinüber und kniete sich auf den Boden. Polaner wollte oder konnte Andras nicht ansehen. Sein Gesicht war schwarz vor Blutergüssen, die Nase gebrochen, die Augen unter violetten Wülsten verborgen. Er hatte die Knie an die Brust gezogen.
»Mein Gott«, sagte Andras. »Was ist passiert? Wer war das?«
Keine Antwort.
»Beweg dich nicht!«, sagte Andras und richtete sich schwankend auf. Er lief aus dem Raum, über den Hof und die Treppe hinauf zu Vagos Büro, dessen Tür er ohne anzuklopfen aufriss.
»Lévi, was in aller Welt …?«
»Eli Polaner wurde halb tot geschlagen. Er ist auf dem Herrenklo im Erdgeschoss.«
Sie liefen nach unten. Vago versuchte, Polaner zu überreden, seine verkrampfte Schutzhaltung zu lösen, damit er seinen Oberkörper untersuchen konnte, doch Polaner wollte sich nicht bewegen. Als er schließlich zumindest die Arme vom Gesicht nahm, sog Vago erschrocken die Luft ein. Polaner begann zu weinen. Seine Lippe war aufgeplatzt, die Augen blau zugeschwollen. Polaner spuckte Blut auf den Boden.
»Bleibt hier, alle beide«, sagte Vago. »Ich rufe einen Arzt.«
»Nein«, sagte Polaner. »Kein Arzt.« Aber Vago war schon fort, lief auf den Hof, schlug die Tür hinter sich zu.
Polaner drehte sich auf den Rücken, ließ die Arme sinken. Unter seiner Samtjacke war sein Hemd aufgerissen, in schwarzer Tinte war etwas auf seine Brust geschrieben.
Feygele . Schwuler Jude.
Andras berührte das zerrissene Hemd, das Wort. Polaner zuckte zusammen.
»Wer war das?«, fragte Andras.
»Lemarque«, sagte Polaner. Dann murmelte er noch etwas anderes, einen Satz, den Andras nur zur Hälfte verstand und nicht übersetzen konnte: »J’étais coin…«
»Tu étais quoi?«
»J’étais coincé« , sagte Polaner und wiederholte es so lange, bis Andras es verstand. Sie hatten ihm eine Falle gestellt. Ihn hereingelegt. Im Flüsterton: »Wollte mich gestern Abend hier treffen. Und kam dann mit drei anderen.«
»Dich hier abends treffen?«, fragte Andras. »Um an den Zeichnungen zu arbeiten?«
»Nein.« Polaner sah ihn mit seinen geschwollenen schwarzblauen Augen an. »Nicht zum Arbeiten.«
Feygele .
Andras brauchte einen Moment, bis er verstand. Ein abendliches Treffen: eine Verabredung. Das also und nicht ein Mädchen daheim in Polen, die vorgebliche Verlobte, die ihm Briefe geschrieben hatte, hielt Polaner davon ab, sich für die Frauen hier in Paris zu interessieren.
»Oh, Gott«, sagte Andras. »Ich bringe ihn um. Ich schlage ihm die Zähne aus.«
Vago kam mit einem Erste-Hilfe-Kasten durch die Tür der Herrentoilette. Hinter ihm drängte sich eine Traube von Studenten. »Geht weg«, rief er über die Schulter zurück, doch die Studenten rührten sich nicht. Vagos Brauen zogen sich zu einem schmalen V zusammen. »Haut ab!«, schrie er, und die Studenten zuckten zurück, miteinander tuschelnd. Die Tür schlug zu. Vago kniete sich neben Andras und legte eine Hand auf Polaners Schulter.
»Ein Sanitätswagen ist unterwegs«, sagte er. »Das wird schon wieder.«
Polaner hustete und spuckte erneut Blut. Er bemühte sich, sein Hemd mit einer Hand geschlossen zu halten, doch die Anstrengung war zu groß für ihn; seine Arme sackten auf den Betonboden.
»Sag es ihm«, drängte Andras.
»Was soll er mir sagen?«, fragte Vago.
»Wer das getan hat.«
»Ein anderer Student?«, fragte Vago. »Wir stellen ihn vor den Disziplinarausschuss. Er wird der Schule verwiesen. Wir erstatten Strafanzeige.«
»Nein, nein«, sagte Polaner. »Wenn meine Eltern das erfahren …«
Jetzt sah Vago das Wort, das in Tinte geschrieben auf Polaners Brust prangte. Er wippte auf seinen Absätzen zurück und legte die Hand vor den Mund. Lange Zeit schwieg er und rührte sich nicht. »Gut«, sagte er schließlich. »Gut.« Er schob die Fetzen von Polaners Hemd beiseite, um einen besseren Blick auf die Verletzungen zu bekommen; Polaners Brust und Bauch waren überall von Blutergüssen bedeckt. Andras konnte den Anblick kaum ertragen. Übelkeit stieg in ihm auf, er musste den Kopf
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