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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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grollte er jedem Pärchen, das er auf der Straße sah; wenn er versuchte, sich mit einem Kinofilm abzulenken, verfluchte er die schwarzhaarige Leinwandschönheit, die vom Zugabteil ihres Gatten zum mondbeleuchteten Liegewagenplatz ihres Geliebten schlich. Wenn er am Ende eines solchen Abends nach Hause kam und ein Licht in seinen Fenstern erblickte, redete er sich beim Hinaufsteigen ein, dass sie nur gekommen sei, um dem Ganzen für immer ein Ende zu machen. Dann öffnete er die Tür und sah sie neben dem Öfchen sitzen, ein Buch lesend, den Saum eines Tanzkleides nähen oder Tee kochen, und sie stand auf und legte ihm die Arme um den Hals, und er schämte sich dafür, an ihr gezweifelt zu haben.
    Als die Bäume Mitte Mai eng anliegende grüne Kleider trugen und die Brise von der Seine selbst nachts noch warm herüberwehte, tauchte Klara eines Samstagabends mit einem neuen Frühlingshut auf, einer blassblauen Toque mit Band aus dunklerem Blau. Ein neuer Hut, so etwas Simples: Es war nicht mehr als ein modisches Accessoire, ein Zeichen für den Wechsel der Jahreszeiten. Gewiss doch hatte sie seit dem roten Glockenhut ihrer ersten winterlichen Umarmungen verschiedene Hüte getragen; Andras erinnerte sich an einen kamelfarbenen mit einer schwarzen Feder und an eine grüne Kappe mit einer Art Lederquaste. Doch dieser ausgesprochen frühlingshafte Hut, diese blassblaue Toque, rief ihm anders als die vorigen in Erinnerung, dass die Zeit für sie beide verstrich, dass er immer noch studierte und sie noch immer auf ihn wartete, dass die Beziehung zwischen ihnen eine Affäre war, zart und vergänglich. Er entfernte ihre Libellenhaarnadel und hängte den Hut an den Garderobenständer neben der Tür, dann nahm er ihre Hände und führte sie zum Bett. Klara lächelte und legte die Arme um ihn, flüsterte ihm seinen Namen ins Ohr, doch er griff wieder zu ihren Händen und setzte sich mit ihr hin.
    »Was ist?«, fragte sie. »Stimmt etwas nicht?«
    Er konnte nicht sprechen, konnte nicht einmal ausdrücken, was ihn so wehmütig machte. Er fand keine Möglichkeit, ihr mitzuteilen, dass ihr Hut ihn daran erinnert hatte, wie kurz das Leben war und dass er Klara nicht verdiente. Deshalb nahm er sie in die Arme und liebte sie und redete sich ein, es sei ihm egal, wenn zwischen ihnen nie mehr existieren würde als diese spätabendlichen Treffen, diese eingeschränkte Affäre.
    Die Stunden flogen dahin; als sie sich endlich von der Wärme des Bettes trennten und anzogen, war es fast drei Uhr. Sie stiegen die fünf Treppen zur Straße hinunter und gingen hinüber zum Boulevard Saint-Michel, um ein Taxi heranzuwinken. Sie verabschiedeten sich immer an derselben Straßenecke. Mittlerweile hasste Andras jenen Abschnitt des Trottoirs, weil er ihm Nacht für Nacht Klara raubte. Tagsüber, wenn seine Macht, sie Andras zu entführen, im gleichgültigen Lärm des Alltags versank, erschien ihm die Ecke völlig normal; dann konnte er sich fast einreden, sie unterscheide sich nicht von anderen Straßenecken, sei ein Ort ohne besondere Bedeutung. Doch jetzt, in der Nacht, war sie seine Nemesis. Er wollte sie nicht sehen – weder die Buchhandlung auf der anderen Straßenseite noch die umzäunten Linden, noch die Apotheke mit dem leuchtenden grünen Kreuz: nichts davon. Stattdessen bog er mit Klara in eine andere Straße ein, und sie gingen in Richtung Seine.
    »Wo gehen wir hin?«, fragte sie und lächelte zu ihm auf.
    »Ich bringe dich nach Hause.«
    »Gut«, sagte sie. »Es ist eine herrliche Nacht.« Und das stimmte. Ein leichter Maiwind wehte vom Lauf der Seine herüber, als sie über die Brücken ins Marais gingen. Die Bürgersteige waren belebt von Männern und Frauen in Abendkleidung; niemand schien der Nacht ein Ende machen zu wollen. Beim Gehen genoss Andras die unmögliche Vorstellung, dass sie, bei Klaras Haus angekommen, gemeinsam die Treppe hinaufsteigen und lautlos durch den Flur zu ihrem Schlafzimmer huschen könnten, wo sie zusammen in ihrem weißen Bett einschliefen. Doch in Hausnummer 29 brannte hell das Licht; beim Geräusch von Klaras Schlüssel kam Frau Apfel nach unten gelaufen und verkündete, Elisabet sei noch nicht nach Hause zurückgekehrt.
    Klaras Augen weiteten sich vor Schreck. »Es ist nach drei!«
    »Ich weiß«, sagte Frau Apfel und nestelte an ihrer Schürze. »Ich wusste nicht, wo ich Sie erreichen konnte.«
    »Oh, Gott, was kann passiert sein? So lange ist sie noch nie weggeblieben.«
    »Ich habe sie schon in der

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