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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Vergangenheit und Verwandtschaft wie Andras selbst. Als also dieses große, kräftige Mädchen im Hof der École Spéciale erschien und eiskalte Funken in Andras’ Richtung schoss, wusste er sofort, um wen es sich handelte. Da Polaner keine andere Möglichkeit sah, als Andras allein seinem Schicksal zu überlassen, lenkte er Rosen und Ben Yakov mit einer Bitte um Tee in die Cafeteria.
    Am Schultor bog Elisabet ab und führte Andras wortlos den Boulevard Raspail hinunter. Auf dem Weg zu den Tuileries blieb sie zwei Schritte vor ihm. Sie hatte das Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgekämmt; beim Gehen pochte er einen Rhythmus auf ihren Rücken. Andras folgte ihr den Raspail hinunter zum Boulevard Saint-Germain, dann überquerten sie den Fluss und betraten die Tuileries. Elisabet wählte Pfade, die von Gold, Lila und Fuchsia überflutet waren, ging durch die reich duftende Fülle der Maiblüte, bis sie eine Ecke erreichten, die wohl die einzig trostlose im gesamten Park war: eine schwarze Bank, die dringend einen Neuanstrich benötigte, vor einem unbepflanzten Stückchen Erde. Hinter ihnen brauste der Verkehr auf der Rue de Rivoli vorbei. Elisabet setzte sich, verschränkte wieder die Arme und warf Andras einen starren, hasserfüllten Blick zu.
    »Es dauert nicht lange«, sagte sie. Und dann sagte sie ihm, dass er wissen solle, was für eine Frau ihre Mutter sei.
    »Ich weiß, was für eine Frau sie ist«, sagte Andras.
    »Du hast ihr die Wahrheit über Paul und mich gesagt. Jetzt werde ich dir die Wahrheit über sie verraten.«
    Sie war wütend, mahnte er sich. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu verletzen, würde das Blaue vom Himmel herunterlügen. Aber in einem gewissen Sinn war er es ihr schuldig zuzuhören; schließlich hatte er sie verraten.
    »Gut«, sagte er. »Was willst du mir erzählen?«
    »Du glaubst wahrscheinlich, dass du seit meinem Vater der erste Liebhaber meiner Mutter bist.«
    »Ich weiß, dass sie ein kompliziertes Leben geführt hat«, sagte er. »Das ist nichts Neues.«
    Elisabet lachte kurz und harsch. »Kompliziert? So würde ich das nicht nennen. Es ist einfach, sobald man das Muster erkannt hat. Solange ich mich erinnern kann, sehe ich jämmerliche Männer um sie herumscharwenzeln. Sie wusste schon immer, was sie von wem wollte und was sie wert ist. Was glaubst du denn, wie sie an die Wohnung und das Ballettstudio gekommen ist? Indem sie sich die Seele aus dem Leib getanzt hat?«
    Andras musste sich zusammenreißen, um das Mädchen nicht zu ohrfeigen. Er grub die Fingernägel in die Handflächen. »Das reicht«, sagte er. »Das höre ich mir nicht länger an.«
    »Irgendjemand muss dir die Wahrheit sagen.«
    »Deine Mutter hält mich nicht zum Narren, und du solltest es auch nicht tun.«
    »Aber du bist ein Narr, ein lächerlicher Narr! Sie spielt mit dir, sie benutzt dich, um einen anderen Mann eifersüchtig zu machen. Einen richtigen Mann, einen Erwachsenen, der Arbeit hat und Geld. Hier, du kannst es selbst nachlesen.« Sie förderte ein Bündel Umschläge aus ihrem Lederranzen zutage. Eine männliche Handschrift, Klaras Name. Elisabet zog noch ein Bündel hervor, dann ein weiteres. Stapelweise Briefe. Sie nahm einen Umschlag, holte den Brief heraus und begann zu lesen.
    »›Meine liebe Odette‹. So nennt er sie, seine Odette, nach der Schwanenprinzessin aus dem Ballett. ›Seit gestern Abend denke ich nur an Dich. Mein Mund schmeckt noch nach Dir. Meine Hände sind von Dir erfüllt. Dein Geruch ist überall in meinem Haus.‹«
    Andras nahm ihr den Brief aus der Hand. Er sah die Zeilen, die sie gerade vorgelesen hatte, erkannte eine vertraute Schrift; er drehte das Blatt um, suchte nach der Unterschrift. Nur ein Anfangsbuchstabe: Z. Der Umschlag trug einen ein Jahr zurückliegenden Poststempel.
    »Was glaubst du, wer es ist?«, fragte Elisabet und sah Andras in die Augen. »Es ist dein Monsieur Novak. Z steht für Zoltán. Seit elf Jahren ist sie seine Geliebte. Und wenn es mal nicht richtig läuft, was hin und wieder vorkommt, verlegt sie sich auf Dummköpfe wie dich, um ihn eifersüchtig zu machen. Er kommt immer zu ihr zurück. So funktioniert es. Jetzt weißt du Bescheid.«
    Ein Schwall heißer Nadeln bohrte sich in seine Brust; er hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. »Bist du fertig?«, fragte er.
    Elisabet stand auf und glättete den Rock ihres blassgrünen Kleids. »Vielleicht kommt es dir hart vor«, sagte sie. »Aber ich kann dir

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