Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
ähnlichen Kummer gesenkt. Jetzt stand er neben dem Kamin und sah zu, wie die Locken fielen, stumm vor Dankbarkeit, dass diese Frau die Notwendigkeit dieser schlichten, intimen Geste begriff, diesen Akt der Wiederherstellung in einer winzigen Mansardenwohnung auf dem Boulevard Saint-Germain.
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15.
In den Tuileries
WENN ANDRAS IN JENEM FRÜHLING nicht in der Hochschule war, sich um Polaner kümmerte oder Klara traf, lernte er unter der Anleitung von Vincent Forestier das Entwerfen und Bauen von Bühnenbildern. Monsieur Forestier hatte eine Werkstatt auf der Rue des Gravilliers, wo er Pläne zeichnete und Modelle fertigte; seit Monaten hatte er dringend einen neuen Gehilfen gesucht, der ihm beim Abpausen der Entwürfe und bei der detaillierten, gewissenhaften Arbeit des Modellbaus half. Forestier war ein großer, schwerer und düsterer Typ mit immerwährendem Bartschatten, der die Angewohnheit hatte, jede Äußerung mit einem Zucken seiner breiten Schultern zu unterstreichen, als messe er dem, was er von sich gab, selbst nicht viel Gewicht bei. Es stellte sich heraus, dass er ein stilles Konstruktionsgenie war. Unter Vorgabe strengster finanzieller Beschränkungen und kürzester Herstellungsfristen brachte er in seinem unvergleichlichen Stil Paläste, ganze Straßenzüge und schattige Schluchten hervor. Oft verwandelte sich ein Bühnenbild in das nächste: Die Laube einer Elfenkönigin mochte in einem Theater auf der anderen Seite der Stadt zum Büro eines Kommandeurs werden, um dann einen weiteren Einsatz als Zugabteil oder Einsiedlerhütte oder schleierverhülltes Bett eines Paschas zu absolvieren. Andras’ Idee, Kulissen mit einer Innenansicht auf der Vorder- und einer Außenansicht auf der Rückseite herzustellen, gehörte zu den kleineren Kunstgriffen Forestiers. Er baute Bühnenbilder wie Puzzle; Kulissen, die zu drei oder vier verschiedenen Innenräumen umgebaut werden konnten, je nach Reihenfolge, in der die Platten angeordnet waren; Forestier war ein Meister der optischen Täuschung. Er konnte einen Schauspieler beim Gang über die Bühne wachsen oder schrumpfen lassen, er konnte mit minimal veränderter Beleuchtung ein Kinderzimmer in ein Gruselkabinett verwandeln. An die Wand geworfene handkolorierte Lichtbilder beschworen ferne Städte oder Berge, Geistererscheinungen oder Erinnerungen an die Kindheit einer Figur herauf. Ein Schattenspiel, das durch die Hitze einer Kerze zum Drehen gebracht wurde, ließ Vogelschwärme über einen Gaze-Vorhang huschen. Jedes Bühnenbild konnte Falltüren oder drehbare Holzpaneele beherbergen; jede Kulisse verbarg ein geheimnisvolles Innenleben, das wiederum ein zweites Innenleben beinhalten mochte, welches noch ein weiteres Innenleben in sich trug, das schließlich eine unheimliche Ähnlichkeit mit der Außenansicht aufwies. Monsieur Forestier selbst hatte die Angewohnheit, aufzutauchen und zu verschwinden, als sei er ein Schauspieler in dem von ihm entworfenen Bühnenbild; manchmal kam er herein, wies Andras eine Aufgabe zu, und fünf Minuten später war er wieder fort, wie durch die Wand gegangen, und überließ es Andras, sich über die Schwierigkeiten der Konstruktion den Kopf zu zerbrechen. Nach dem Lärm im Sarah-Bernhardt war es eine abgeschiedene und manchmal einsame Arbeit. Doch wenn Andras nachts in sein Zimmer heimkehrte, konnte es sein, dass Klara dort auf ihn wartete.
Jeden Abend eilte er nach Hause in der Hoffnung, sie dort zu finden; meistens war es ihr Geist, den er im Dunkeln umarmte, der Schatten ihrer Anwesenheit, der in seinem Zimmer schwebte, wenn die wahre Klara fort war. Es trieb ihn fast in den Wahnsinn, wenn nach ihrem Besuch ein Tag nach dem anderen verstrich. Er versuchte, nicht ständig daran zu denken, dass Klara ihr eigenes Leben führte, während er zur Hochschule ging, arbeitete oder sich um Polaner kümmerte. Sie gab Abendgesellschaften, ging ins Kino und ins Theater, in Jazzclubs und zu Vernissagen. Andras stellte sich die Menschen vor, die Klara bei Einladungen ihrer Bekannten traf oder selbst bewirtete – ausländische Choreografen und Tänzer, junge Komponisten, Schriftsteller, Schauspieler, wohlhabende Kunstmäzene –, und war überzeugt, dass sie ihm jeden Moment ihre Zuneigung entziehen würde. Wenn Klara drei Abende nacheinander nicht in der Rue des Écoles auftauchte, war er fest davon überzeugt, dass es so weit war, und verbrachte den nächsten Tag in einem Nebel der Verzweiflung. Wenn er allein unterwegs war,
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