Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
waren. Den anderen Brief richtete er an Polaner, ein kurzes Geständnis von Liebe und Reue. Nachdem er beide Briefe auf den Küchentisch gelegt hatte, erhängte er sich spätnachts an einem Querbalken in der Scheune seiner Eltern. Sein Vater hatte die Leiche am Morgen gefunden, kalt und blau wie die winterliche Dämmerung selbst.
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14.
Ein Haarschnitt
ES WURDE BESCHLOSSEN – zuerst bei einem spätabendlichen Treffen in Perrets Büro, dann noch später im La Colombe Bleue –, dass Andras derjenige sein würde, der Polaner die Nachricht von Lemarques Tod überbrachte. Perret hielt es für seine Aufgabe als Direktor der Schule, doch Vago widersprach, der heikle Charakter der Situation erfordere besondere Maßnahmen; es könnte leichter zu verkraften sein, sagte er, wenn die Nachricht von einem Freund käme. Andras, Rosen und Ben Yakov stimmten zu und beschlossen unter sich, dass Andras derjenige sein sollte, der Polaner den Brief gab. Sie wollten natürlich warten, bis die Ärzte ihn außer Gefahr glaubten; es gab Grund zur Annahme, dass es bald so weit sein würde. Nach der zweiten Woche im Krankenhaus waren die Nachwirkungen der inneren Blutungen abgeklungen. Polaner war nicht mehr verwirrt, seine Blutergüsse und Schwellungen waren zurückgegangen; er konnte wieder selbstständig essen und trinken. Er würde noch ungefähr einen Monat geschwächt sein, sagten die Ärzte, bis der Körper den Blutverlust ausgeglichen hatte, aber alle waren sich einig, dass er sich auf dem Weg der Besserung befand. Am darauffolgenden Wochenende machte er einen so stabilen Eindruck, dass Andras wagte, an einen der Ärzte heranzutreten und in vorsichtigem Französisch die Sache mit Lemarque zu erklären. Der Arzt, ein Internist mit schmalem Gesicht, der Polaner zu seinem speziellen Fall gemacht hatte, äußerte Bedenken hinsichtlich eines möglichen Schocks und seiner Folgen, doch da die Nachricht nicht für immer von Polaner ferngehalten werden konnte, war der Arzt einverstanden, dass man sie ihm überbrachte, solange er noch im Krankenhaus war und genau beobachtet werden konnte.
Als Andras am nächsten Tag auf dem inzwischen vertrauten Stahlrohrstuhl neben dem Bett saß, lenkte er das Gespräch zum ersten Mal seit dem Überfall auf die École Spéciale. Da Polaner sich so gut erhole, sagte Andras, wäre der Arzt der Ansicht, er dürfe an eine schrittweise Rückkehr an die Schule denken. Ob Andras ihm etwas aus dem Atelier mitbringen solle – seine Statikbücher, seine Zeichengeräte, das Skizzenbuch?
Polaner warf Andras einen mitleidigen Blick zu und schloss die Augen. »Ich gehe nicht an die Hochschule zurück«, sagte er. »Ich gehe heim nach Krakau.«
Andras legte ihm eine Hand auf den Arm. »Willst du das wirklich?«
Polaner stieß einen langen Seufzer aus. »Das hat nichts mit wollen zu tun«, sagte er. » Die haben das entschieden.«
»Nichts ist entschieden. Wenn du willst, kannst du jederzeit zurück zur École.«
»Das geht nicht«, sagte Polaner, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Wie soll ich Lemarque und den anderen gegenübertreten? Ich kann doch nicht einfach ins Atelier spazieren und mich an meinen Tisch setzen, als wäre nichts geschehen.«
Es war sinnlos, noch länger zu warten; Andras holte den Brief aus der Tasche und legte ihn in Polaners Hände. Lange betrachtete Polaner den Umschlag, seinen Namen in Lemarques scharfkantiger Handschrift. Dann öffnete er den Umschlag und strich das Blatt auf seinem Bein glatt. Er las die sechs Zeilen, in denen Lemarque sich schuldig bekannte und Polaner um Verzeihung bat, sowohl für den Überfall als auch für das, was er seiner Meinung nach tun musste. Als Polaner fertig war, faltete er das Blatt wieder zusammen und ließ den Kopf mit geschlossenen Augen zurück aufs Kissen sinken, seine Brust hob und senkte sich unter der Decke.
»Oh, Gott«, sagte er halb flüsternd. »Das ist, als hätte ich ihn selbst umgebracht.«
Bis zu dem Moment hatte Andras geglaubt, sein Hass auf Lemarque habe den Gipfel erreicht, dessen Tod hätte den Hass überwunden und sich in eine Art Mitleid verwandelt. Doch als er Polaner trauern sah, als er sah, wie die vertrauten Falten und Flächen im Gesicht seines Freundes sich unter der Last der Nachricht verzogen, bebte er vor Zorn. Dass Lemarque seinen Tod mit dieser Liebeserklärung beschwert hatte! Jetzt würde sich Polaner auf ewig mit dem Gedanken quälen, was er verloren hatte, was in einer anderen Welt möglich
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