Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
gewesen wäre. Es war eine Grausamkeit, die den Überfall und den Selbstmord noch übertraf, ein Stechen wie das von bestimmten Brennnesseln, die in der ungarischen Tiefebene wuchsen: Hatten die winzigen Stachelhärchen sich einmal festgesetzt, wanderten sie immer tiefer unter die Haut und gaben dort tagelang, ja wochenlang ihr Gift ab, quälten ihr Opfer.
An jenem Abend blieb Andras auch nach Sonnenuntergang bei Polaner. Er überhörte die Mahnungen der Stationsschwester, die Besuchszeit wäre vorbei. Als sie nicht lockerließ, sagte er zu ihr, sie würde schon die Polizei rufen müssen, wenn sie ihn loswerden wolle; schließlich legte der hagere Internist Fürsprache für Andras ein, und er durfte die ganze Nacht bis zum nächsten Morgen bleiben. Während er am Bett wachte, kehrten seine Gedanken immer wieder zu einem Satz zurück, den Polaner im Oktober im La Colombe Bleue gesagt hatte: Ich möchte einfach kein Aufsehen erregen. Ich will studieren und meinen Abschluss machen. Wenn es in seiner Macht stand, dachte Andras, würde er alles tun, um zu verhindern, dass Polaner aus Scham und Kummer nach Krakau zurückkehrte.
Eine weitere Woche verging, ehe Polaner das Krankenhaus verlassen konnte. Als es so weit war, war es Andras, der ihn zu seinem Zimmer auf dem Boulevard Saint-Germain begleitete. Er versorgte Polaners Wunden, machte ihm Essen, brachte seine Sachen in die Wäscherei, schürte das Feuer im Ofen. Eines Morgens kam er von der Bäckerei zurück und fand Polaner sitzend im Bett vor, ein Zeichentablett gegen die Oberschenkel gelehnt; die Bettdecke war mit Bleistiftspänen beschneit, auf dem Stuhl neben dem Bett häufte sich Zeichenkohle. Andras sagte kein Wort, als er zwei Baguettes auf dem Tisch ablegte. Er machte Tee und bestrich Brot mit Marmelade, dann reichte er seinem Freund alles ins Bett und setzte sich an Polaners Tisch. Den ganzen Vormittag über begleitete ihn bei seiner eigenen Arbeit das Geräusch von Polaners Zeichenstift, wie Musik.
Später am Vormittag stellte sich Polaner vor den Kommodenspiegel und fuhr sich mit den Händen über sein stoppelbeschattetes Kinn. »Ich sehe aus wie ein Verbrecher«, sagte er. »Als ob ich monatelang im Knast gesessen hätte.«
»Du siehst sehr viel besser aus als noch vor wenigen Wochen.«
»Es kommt mir albern vor, an einen Haarschnitt zu denken«, sagte Polaner fast im Flüsterton.
»Was ist daran albern?«
»Weiß nicht. Alles. Zuerst mal weiß ich nicht, ob ich in einem Friseurstuhl sitzen und ein Friseurgespräch führen kann.«
Andras stellte sich neben Polaner vor den Spiegel und betrachtete ihn darin. Er selbst sah ordentlicher aus als in den letzten Wochen; Klara hatte ihm am Abend zuvor die Haare abgeschnitten, sodass er wie ein Mann von Welt aussah, obwohl sie sein langes Haar gemocht hatte.
»Hör mal«, sagte Andras. »Nehmen wir mal an, ich würde einen Freund fragen, ob er kommen und dir die Haare schneiden kann. Dann würdest du nicht auf einem Friseurstuhl sitzen und Geschichten mit dem Friseur austauschen müssen.«
»Was für ein Freund?«, fragte Polaner und belauerte Andras im Spiegel.
»Ein ziemlich guter Freund.«
Polaner wandte den Blick vom Spiegel ab und sah Andras direkt an. »Eine Freund in vielleicht?«
» Exactement .«
»Was für eine Freundin, Andras? Was hat sich getan, während ich im Krankenhaus lag?«
»Das hat sich leider schon vor etwas längerer Zeit getan. Vor Monaten, genauer gesagt.«
Polaner warf Andras ein flüchtiges, scheues Lächeln zu; in dem Moment schien er, zum ersten Mal seit der Nachricht von Lemarques Tod, wieder zurück in seine alte Haut geschlüpft zu sein. »Ich nehme nicht an, dass du mir das alles genau erzählen willst«, sagte er.
»Da ich es nun erwähnt habe, fühle ich mich irgendwie dazu verpflichtet.«
Polaner wies auf den Stuhl. »Leg los!«, sagte er.
Am nächsten Abend hockte Polaner auf ebendiesem Stuhl mitten im Zimmer, die Schultern mit einem Handtuch bedeckt, vor ihm der Spiegel, während Klara Morgenstern ihn mit Schere und Kamm bearbeitete und in ihrer leisen, hypnotischen Art mit ihm redete. Als Andras sie am Vorabend auf Polaner angesprochen hatte, verstand sie auf der Stelle, warum sie tun musste, um was er sie bat; sie hatte sogar eine Verabredung zum Essen abgesagt. Zu Beginn des Abends, auf dem Weg zu Polaner, hatte Klara Andras’ Hand mit stummer Inbrunst gehalten, als sie die Seine überquerten, und, wie Andras vermutete, den Blick in Erinnerung an einen
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