Die unsichtbare Handschrift
hin, als würde sie Worte, die sie benutzen wollte, zunächst ausgiebig im Mund hin und her bewegen und durchkauen.
»Du hast von einer Frau mit der Feder gesprochen«, sagte Heilwig. »Ihr Name ist Esther, oder nicht?«
»Ein Weib, das schreibt, wird bestraft. Sie darf nicht leben.« Leise wiederholte sie die Sätze in einem fort.
»Sie selbst kann nicht schreiben«, warf Magnus ein. Ihm schien äußerst unbehaglich zumute zu sein.
Mechthild brach mitten in ihrem Geflüster ab und wendete ihm zum ersten Mal ihr Antlitz zu.
»Sie hat den bösen …«, hauchte er erschrocken, doch Heilwig fuhr ihn an.
»Papperlapapp! Sie sieht mehr als wir beide, mehr als die meisten Menschen. Daran ist nichts Böses.« Sie funkelte ihn an. »Sie besitzt eine außergewöhnliche Gabe. Die mag uns fremd sein, Magnus, aber was fremd ist, muss noch lange nicht von Übel sein.«
Sie konnte in seinem Gesicht lesen, dass er anderer Meinung war, aber zu gute Manieren hatte, ihr zu widersprechen. Heilwig setzte sich auf das Lager und legte Mechthild eine Hand auf die Wange, deren Haut sich wie sehr feines, dünnes Leder anfühlte. Sofort griff die Alte nach der Hand und hielt sie mit ihren knochigen Fingern fest.
»Es ist sehr wichtig«, begann Heilwig von neuem. »Du hast von dieser Frau gesprochen. Und nun hat Magnus ebenfalls von einer Frau gehört und hat Sorge, dass diese uns womöglich schaden könnte.« Einerseits war sie sich beinahe sicher, dass Mechthild genau wusste, was sie in Lübeck zu tun gedachte, andererseits hatte sie Bedenken, ihr zu viel zu offenbaren. Wenn sie ständig vor sich hin murmelte, dann konnte es doch sein, dass sie alles wiedergab, was sie hörte und wovon sie Kenntnis hatte. Wenn der Falsche etwas aufschnappte, mochte das böse enden. »Ich bin nicht nur in die Stadt gekommen, um dich zu finden«, begann sie vorsichtig. »Es gibt da eine Angelegenheit, die ich gemeinsam mit dem Schreiber Magnus zu erledigen habe.«
»Ein Dokument von größter Wichtigkeit«, sagte Mechthild heiser. Ihre Stimme krächzte noch mehr als üblich, so dass selbst Heilwig ein Schauer über den Rücken lief. »Ich habe es gesehen. Und ich sehe das Weib. Ihr dürft sie nicht am Leben lassen. Sie wird Euch ins Unglück stürzen«, zischte sie in einem merkwürdigen Singsang. Magnus bekreuzigte sich verstohlen.
»Aber Mechthild, was redest du denn nur? Wir können doch niemanden töten!« Die letzten Worte waren kaum zu hören, so leise hatte Heilwig gesprochen. Das Unvorstellbare über die Lippen zu bringen kostete sie größte Überwindung.
»Ihr müsst!«, beschwor Mechthild sie. Ihr dürrer Oberkörper schoss nach vorn, und sie packte Heilwigs Schultern mit beiden Händen. »Ihr dürft sie nicht leben lassen. Nicht leben lassen. Dürft sie nicht leben lassen.« Pausenlos wisperte sie wiederum dieselben Worte.
»Lasst uns gehen, das hat doch keinen Zweck. Ich werde mir diese Esther mal genauer ansehen. Zur Not verbringe ich die ganze Nacht vor ihrer Tür, bis es Zeit wird, ins Skriptorium zu gehen.« Magnus knetete ungeduldig die Hände.
»Nicht leben lassen!«, befahl die Alte mit einer hohen lauten Stimme.
»Du wirst noch alle Schwestern aufwecken«, versuchte Heilwig sie zu beschwichtigen. »Ich verspreche dir, wir werden uns um das Weib mit der Feder kümmern.« Behutsam löste sie die Hände von ihren Schultern und drückte Mechthild zurück auf das Lager.
»Es ist das Tintenweib«, sagte die. »Sie ist mit dem Teufel im Bunde.«
»Lasst uns gehen«, drängte Magnus erneut.
Heilwig erhob sich. Was hatte sie sich von diesem Besuch erhofft? Sie wusste es nicht zu sagen.
»Sie ist mit dem Teufel im Bund. Mit dem Teufel aus Köln.« Sie atmete geräuschvoll aus und schloss die Augen.
Kaum hatte sich die Holztür des Johannisklosters hinter ihnen geschlossen, sagte Magnus: »Ich habe sie bis nach Hause und später zu einem Kaufmannshaus gar nicht weit von hier im Johannisquartier verfolgt. Ich werde zu diesem Haus zurückgehen und ihr dort auflauern. Der Bote des Kaisers kommt in das Skriptorium. Das steht fest. Wenn sie also vorhat, ein eigenes Spielchen zu spielen, dann muss sie sich in aller Frühe dorthin begeben. Und dann schnappe ich sie mir.«
»Ihr nehmt Euch doch wohl nicht zu Herzen, was Mechthild gesagt hat, dass wir diese Esther nicht leben lassen dürfen?« Heilwig war flau. Eine Fälschung war eine Sache, ein Mord aber eine ganz andere.
»Wo denkt Ihr hin? Zwar bin ich unter Dieben, Bettlern
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