Die unsichtbare Handschrift
blieb sie also einfach hier hocken und beobachtete stumpf die anderen Gäste, bis sie ein wenig benommen vom Alkohol war und ihre Augen von alleine zufielen.
Nach nur einer Minute war Costas mit dem Wein zurück.
»Bitte schön!« Zu ihrer Verwunderung zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. Das kam höchst selten vor, schon gar nicht dann, wenn so viel Betrieb herrschte wie an diesem Abend.
Sie sah ihn fragend an.
»Was ist los mit Ihnen, Christa?«
»Wieso, was soll denn los sein?«
»Liebeskummer?«
Sie hatte gerade das Glas angesetzt und hätte sich beinahe verschluckt.
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich habe diesen Mann, mit dem Sie mal da waren, lange nicht mehr gesehen. Dabei hatte ich den Eindruck, dass Sie ihn sehr gerne mögen, oder?«
Sie runzelte die Stirn, obwohl sie sofort wusste, wen er meinte. »Ach, Sie sprechen von Ulrich. Das ist nur ein Bekannter aus Köln, ein Berufstaucher. Er hat das Pergament hochgeholt, das dann bei mir auf dem Tisch gelandet ist und das uns nun zwingt, Lübecks Geschichte mit anderen Augen zu sehen.«
»Also kein Liebeskummer«, stellte er fest und sah sie noch einmal zweifelnd an. Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben dunkle Ringe unter den Augen, Sie haben eindeutig abgenommen. Ich mache mir wirklich Sorgen um Sie.« Er fuhr sich mit der Hand durch das schwarze Haar, eine Geste der Verlegenheit. Seine guten Manieren erlaubten es ihm wahrscheinlich nicht, sie in ein derart privates Gespräch zu verwickeln, doch sein echtes Interesse an ihr brachte ihn dazu, seine Manieren diesbezüglich kurzfristig über Bord zu schmeißen.
Sie atmete tief durch. »Es ist die Arbeit.«
»Ich dachte, das meiste ist geschafft. Sie haben diese alte Urkunde doch entziffert, oder nicht?«
»Ja, schon, aber damit ist es ja noch nicht zu Ende. Dieses blöde Ding bereitet mir wirklich Kopfzerbrechen.«
»Blödes Ding? Sie meinen doch nicht das Pergament? Nein, so würden Sie niemals über ein historisches Dokument sprechen.« Er lächelte. Eigentlich hatte sie sich verordnet, in ihrer Freizeit möglichst wenig von dieser mysteriösen Esther und ihren Recherchen zu reden, doch vielleicht tat ihr genau das ganz gut. Wenn sie einem Außenstehenden alles noch einmal erzählte, stolperte sie womöglich über ein winziges Detail, das ihr einen neuen Ansatz bot. Und seinem Lächeln konnte sie ohnehin nicht widerstehen.
»Soweit ich es beurteilen kann, ist sie weder eine Nonne noch eine Patrizierin oder gar Adlige gewesen«, erklärte sie seufzend, nachdem sie ihn einigermaßen ins Bild gesetzt hatte. »Es gibt einfach so verdammt wenige Unterlagen aus der Zeit. Es wäre der pure Zufall, wenn ich auf Gerichtsakten über eine Frau stoßen würde, die schreiben konnte und dafür bestraft wurde. Diese Esther ist wie ein Phantom.«
Er hatte ihr aufmerksam zugehört. Helfen konnte er ihr natürlich nicht. Das hatte sie auch nicht erwartet. Allerdings sah er sie mit einem Mal ganz merkwürdig an.
»Die Frau hieß Esther?«
»Ja. Und?«
»Nichts. Ich dachte nur gerade … Nein, nichts.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, als hätte er gerade einen absurden Gedanken gehabt und diesen soeben wieder verworfen.
Eine Weile schwiegen sie beide. Sie rechnete schon damit, dass er aufstehen und sich erneut um seine anderen Gäste kümmern würde. Aber das geschah nicht. Die Stille zwischen ihnen war greifbar. Das war sonst nie der Fall.
»Es müsste wohl ein Wunder geschehen, damit ich der geheimnisvollen Esther noch auf die Spur komme«, sagte Christa und griff zu ihrem Glas.
»An Wunder muss man glauben, damit sie passieren«, stellte er fest und machte noch immer keine Anstalten, sich zu erheben. Er knetete seine stets perfekt gepflegten Hände. »Denken Sie nur mal an den Brand hier im Haus. Ist es nicht ein Wunder, dass einige Balken stehen geblieben sind und sogar heute noch ihre Last tragen können?« Er deutete auf die schwarzen Balken, verkohlte Zeugen eines Feuers, das dem Gebäude vor einiger Zeit übel zugesetzt hatte. Sie erinnerte sich gut daran, dass sie damals befürchtet hatte, man würde das wunderschöne alte Bauwerk vollständig abreißen müssen. Bis zu dem Zeitpunkt war sie noch keine Stammkundin des Restaurants gewesen. Sie war noch Studentin und Essengehen ein echter Luxus. Trotzdem hatte sie interessiert verfolgt, was man unternommen hatte, um das Haus zu retten, was schließlich zu großen Teilen gelungen war.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen,
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