Die unsichtbare Handschrift
er vom Kaiser jetzt eine Besserstellung der Kölner bestätigt haben, für immer und mit Unterschrift und Siegel.« Esther konnte es einfach nicht fassen.
»Obendrein hat er die Sätze geflissentlich vergessen«, sagte Vitus und betonte besonders das letzte Wort, »die den Lübeckern ihre Freiheit sichern.«
»Dann ist das also nicht das Schreiben, das Ihr angefertigt habt?« Magnus lehnte noch immer am Baum, die Hände auf dem Rücken.
»Nein, mein Schreiben ist dieses hier, das unter dem Putzlumpen verborgen lag.« Sie hielt es ihm hin, so dass er einen Blick darauf werfen konnte. Er überflog die Zeilen.
»Der Wortlaut Eurer Fassung entspricht nahezu der meinen, und sie liegt im Interesse des Rates von Lübeck und in dem der Englandfahrer. Nach mir war nur noch Felding im Querhaus. Er muss meine zweite Abschrift also an sich genommen haben, denn sie fehlte, als ich Euch überraschte.«
»Ja, es waren nur meine und diese hier da, die Felding wohl selbst geschrieben haben muss. Wie durchtrieben er doch ist. Er hatte niemals vor, meine Abschrift zu verwenden. Zunächst wollte er Eure dem Kaiser vorlegen, dann kam ihm der Einfall, eine eigene Fassung anzufertigen, die ihm einen gehörigen Vorteil verschaffen und dem Schauenburger in die Hände spielen soll.«
»Meines Wissen wartet der Domherr Marold dringend auf die Urkunde, die schon heute mit der Gesandtschaft auf die Reise gehen sollte. Als ich hörte, dass Ihr Euch auch noch in diese ganze ohnehin schon so komplizierte Angelegenheit einmischt, war ich alles andere als froh darüber, das könnt Ihr mir glauben. Jetzt sehe ich die Sache natürlich anders. Euer ganz eigenes Anliegen mag mir herzlich gleichgültig sein. Was zählt, ist, dass Ihr den Lübeckern ihre Freiheit sichert. Das entspricht dem Anliegen der erlauchten Gräfin. Und meinem.« Er sah sie an. »Warum bringen wir Marold nicht Eure Fassung?«
Was sollte sie darauf sagen? Im Grunde war es genau das, was Vitus und sie die ganze Zeit wollten. Würden sie jetzt aber zu dem Domherrn gehen, würde er erfahren, dass sie schreiben konnte, wofür sie eine Strafe zu erwarten hätte. Es sei denn, sie ließen sich eine Geschichte einfallen, die erklärte, wie sie in den Besitz der Abschrift gekommen waren. Aber nein, das würde ihnen nicht helfen. Er würde sich das Dokument sehr genau ansehen und den Passus der Englandfahrer entdecken. Er konnte eins und eins zusammenzählen, würde sie als Lügner und Betrüger entlarven und ihnen ihre Schandtat gewiss nicht durchgehen lassen.
»Das haben wir vor«, erklärte Vitus. »Wir werden zu Marold gehen, aber ohne Euch. Woher wissen wir, dass Ihr die Wahrheit sagt?«
»Bringt mich zum Haus des Bischofs Bertold. Dort ist die erlauchte Gräfin Heilwig von der Lippe zu Gast, mit der ich in die Stadt kam. Sie wird Euch bestätigen, dass ich ihr persönlicher Schreiber bin. Sollte Euch das nicht reichen, gehe ich allein zu Marold, um Euch aus der Sache herauszuhalten. Ich sorge dafür, dass Euer Schriftstück nach Parma gebracht wird. Was sagt Ihr?«
»Das klingt verlockend, in der Tat«, gab Vitus nachdenklich zu. »Seid Euch darüber im Klaren, dass wir Euch nicht aus den Augen lassen werden. Wenn Ihr uns für dumm verkaufen wollt, wird Euch das sehr leidtun.«
Magnus setzte sein kluges Lächeln auf. »Ich bin ein alter Mann. Womit wollt Ihr mir drohen, mit dem Tod? Der kommt bald von alleine. Statt mir zu misstrauen, stellt Euch lieber die Frage, warum ich versuchen sollte, Euch zu täuschen. Wir stehen auf derselben Seite. Genau wie Ihr will auch ich dem Schauenburger den Griff nach der Stadtherrschaft vereiteln. Wir sind keine Gegner, wie ich selbst lange Zeit geglaubt habe. Vielmehr haben wir alle etwas davon, wenn wir uns zusammentun, meine ich. Wie denkt Ihr darüber?«
Vitus zog Esther ein Stück beiseite. Kaspar sprang augenblicklich auf und gesellte sich zu ihnen.
»Was meinst du, Esther, können wir ihm Glauben schenken?«
»Er hat mich zwar in Angst und Schrecken versetzt, als er hinter mir her war, aber angetan hat er mir nichts. Dabei hätte er es leicht tun können«, überlegte sie laut. »Bedenke nur einmal, wie lange er mir auf der Spur war. Er hat mich von der Depenau bis nach Hause verfolgt. Dort war ich eine geraume Weile allein, bis du kamst, Kaspar. Er hätte wahrlich eine Menge Gelegenheiten gehabt, mich zu überwältigen. Doch hat er sie nicht genutzt, sondern mich lediglich beobachtet.« Sie sah zu ihm hinüber, wie er unter dem
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